Mittwoch, 28. Mai 2014

In die Auschüsse

Die politische Aufarbeitung der Morde und Anschläge des NSU ging bisher schleppend voran. Neue Untersuchungsausschüsse sollen das ändern.

Ralf Fischer / Jungle World


Zwischen den Nebenklägern im NSU-Prozess gibt es Streit. Die Meinungsverschiedenheiten entzünden sich an der Frage, ob das Gerichtsverfahren in München auch die politische Aufarbeitung des NSU-Skandals gewährleisten oder nur die Funktion eines herkömmlichen Strafprozesses erfüllen soll. Die Rechtsanwälte der Opfer diskutieren darüber seit Monaten. Mehrere Anwälte hatten im Mai einen umfangreichen Beweisantrag gestellt. Sie wollten unter anderem den früheren V-Mann des brandenburgischen Verfassungsschutzes mit dem Decknamen »Piatto« als Zeugen hören. So sollten die Versäumnisse der Verfassungsschutzbehörden vor Gericht zur Sprache gebracht werden. Dagegen wehrten sich jedoch fünf andere Anwälte von Nebenklägern. In einer gemeinsamen Presserklärung regten sie neue Untersuchungsausschüsse zum NSU an, sprachen sich zugleich aber für eine Beschränkung des Strafprozesses auf die juristischen Fragen aus, dieser könne nicht die notwendige politische Aufklärungsarbeit leisten.

Die bisher mangelhafte Aufklärung,
gerade was die Rolle von V-Männern im Umfeld des NSU angeht, beschäftigt nun auch das Parlamentarische Kontrollgremium, das mit der Kontrolle der deutschen Geheimdienste betraut ist. Mitte Mai mussten der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), Hans-Georg Maaßen, und Generalbundesanwalt Harald Range wegen des Todes des V-Mannes »Corelli« (Jungle World 18/14) ausführlich über mögliche Zusammenhänge mit der Mordserie des NSU berichten. Für die Fortsetzung der Beratungen wurde einstimmig beschlossen, umfangreiche Aktenbestände des BfV zu den V-Leuten »Corelli« und »Tarif« anzufordern. Der Informant mit dem Decknamen »Tarif« hatte dem Verfassungsschutz schon 1998 einen Hinweis zu den untergetauchten Neonazis gegeben, zwei Jahre, bevor die Mordserie begann. Die Akte zu »Tarif« war im Jahr 2011 in einer heftig kritisierten Schredderaktion des Geheimdienstes vernichtet worden.

Nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung sind Ermittler des Bundeskriminalamts (BKA) auf einen weiteren ehemaligen V-Mann aufmerksam geworden. »Primus« wurde 1992 angeworben und spähte mindestens ein Jahrzehnt lang die rechtsextreme Szene aus. Im Oktober 2010 vernichtete das BfV seine Akte. »Er kannte viele Leute aus dem Umfeld des NSU«, berichten die beiden Journalisten Hans Leyendecker und Tanjev Schultz in der Süddeutschen Zeitung. Außerdem habe er in Zwickau gewohnt, wo sich das Trio jahrelang versteckt hielt. Der Polizei gegenüber gab der Spitzel an, die drei mutmaßlichen Mitglieder des NSU nicht gekannt zu haben. Das BfV hält sich in der Sache dezent zurück. Eine erste Erkenntnisanfrage des BKA zu dem ehemaligen V-Mann beantwortete das BfV nicht. Nur altbekannte Details und wenig aussagekräftige Informationen übermittelten die Verfassungsschützer ihren Kollegen. Andere Anfragen wurden mit dem Verweis auf die Löschung der Akte zur Person abgewiesen. Ein Austausch von Informationen kam erst zustande, nachdem Ermittler des BKA »Primus« selbst befragt hatten. Die Verfassungsschützer bestätigten eine Angabe ihrer ehemaligen Quelle und fragten das BKA wenig zurückhaltend nach dem gesamten Vernehmungsprotokoll. »Zu allen Kernfragen dieses Falles hat­ten die Verfassungsschützer nichts beizutragen«, stellen Leyendecker und Schultz in ihrem Artikel fest.

Das skandalöse Vorgehen der Behörden,
vor allem der undurchsichtige Umgang des Inlandgeheimdiensts mit seinen V-Leuten, lässt Abgeordnete der SPD, der »Linken« und sogar der CDU mittlerweile darüber nachdenken, ob ein zweiter Untersuchungsausschuss im Bundestag nötig ist, der sich mit den offen gebliebenen Fragen zur Rolle der Geheimdienste im NSU-Komplex befassen soll. »Wir glauben nicht, dass der NSU aus nur drei Personen mit einem kleinen Helferkreis bestand«, sagte die Sozialdemokratin Eva Högl kürz­lich auf einer Podiumsdiskussion in Schwäbisch Hall ausdrücklich auch im Namen von Petra Pau (Linkspartei) und Clemens Binninger (CDU). Sie habe das Gefühl, »viele Hintergründe, Fragen und Zusammenhänge werden nicht weiter ermittelt und auch im Prozess in München nicht ausreichend erörtert«, zitierten Zeitungen die SPD-Politikerin.

In Hessen hat der Landtag auf Antrag der SPD die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Mordserie des NSU beschlossen. Linkspartei und SPD, also die Oppositionsparteien, stimmten geschlossen für den Antrag, für dessen Annahme bereits ein Fünftel der Stimmen im Landtag genügt hätte. Der Untersuchungsausschuss soll vor allem die Rolle des ehemaligen Innenministers und derzeitigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) klären. Als »nicht zielführend« für die weitere Aufklärung kritisierten hingegen Abgeordnete der CDU, der Grünen und der FDP die Einrichtung des Ausschusses. Die hessischen Grünen hätten statt eines Untersuchungsausschusses die Bildung einer »Expertenkommission« bevorzugt.

Der mangelnde Aufklärungswille, wie ihn nicht nur die hessische Landesregierung zeigt, nährt Verschwörungstheorien. Im Münchener NSU-Prozess wurde Mitte Mai zumindest eine solche Theorie entkräftet. Die Aussage eines Rechtsmediziners widerspricht der Vermutung, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt seien erschossen worden, um eine Verwicklung von Behörden in den Fall zu verschleiern. Seiner Aussage zufolge war an der Herbeiführung des Todes der beiden Männer keine dritte Person beteiligt.

Böhnhardt habe eine »erhebliche Deformierung des ganzen Kopfes«,
»Gesichtsaufreißungen« sowie »eine typische Einschussverletzung und eine 20 Zentimeter große Aufreißung des Kopfes« aufgewiesen. »Der Schuss verlief schräg durch den Kopf und wie eine Explosion von innen«, sagte der Rechtsmediziner. Durch den Schuss traten eine »sofortige Handlungsunfähigkeit« und der Tod ein. Bei Mundlos konnten erst beim Öffnen des Mundes Schmauchspuren gefunden werden. Er schob sich der Obduktion zufolge das Gewehr in den Mund und drückte ab. Das Resultat sei »eine sehr starke Zerstörung des Kopfes« gewesen. Auch Mundlos sei sofort tot gewesen. Das Feuer im Wohnmobil der Männer habe schnell gelöscht werden können, so dass beide Leichen nur vereinzelt Brandspuren aufgewiesen hätten. Spuren, die auf die Gegenwart Dritter hindeuten, seien nicht gefunden worden, sagte der Rechtsmediziner. Aussagen wie diese lassen zwar womöglich einige Verschwörungstheorien verpuffen, von einer lückenlosen Aufklärung ist man jedoch immer noch sehr weit entfernt – nach den Untersuchungsausschüssen ist vor den Untersuchungsausschüssen.

Donnerstag, 22. Mai 2014

Mehr als ein Imageproblem

Seit über drei Monaten sind Asylbewerber im ostsächsischen Hoyerswerda untergebracht. Stadt und Bürger wollten sich nach dem Pogrom von 1991 als gute Gastgeber präsentieren. Mit mäßigem Erfolg.

Ralf Fischer / Jungle World


Noch bevor die ersten Asylbewerber in der Stadt überhaupt ihr Quartier bezogen, gründeten Vertreter von Stadt, Kirche und Zivilgesellschaft ein Netzwerk, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Neuankömmlinge mit Solidaritätsaktionen und Freizeitangeboten zu unterstützen. Für Bürgermeister Stefan Skora (CDU) war dies ein guter Anfang. In einem öffentlichen Forum insistierte er darauf, dass nur ein »breites Bürgerbündnis« in der Lage sei, für eine angenehme Willkommenskultur in Hoyerswerda zu sorgen. Seiner Einschätzung nach seien ein Drittel der Bürger für das Heim, einem Drittel sei es egal, ein Drittel sei dagegen. Ziel seiner Politik sei es, »dass die strikten Gegner keine Deutungshoheit erlangen«. »Ein bisschen Rest­angst« bleibe trotzdem, sagte Skora der Taz.

Zwei Tage nachdem die ersten Bewohner in die Flüchtlingsunterkunft eingezogen waren, ereignete sich tatsächlich der erste rassistisch motivierte Übergriff am helllichten Tag mitten auf dem Markplatz. Das Opfer war ein Marokkaner, der gerade in der Stadt unterwegs war. Ein männlicher Fahrradfahrer verpasste dem Asylbewerber im Vorbeifahren einen Schlag auf den Hinterkopf, kehrte dann noch einmal zurück und schlug ihm in die Nierengegend. Geistesgegenwärtig fotografierte der Nordafrikaner mit seinem Handy den Täter, so dass die Polizei den Angreifer kurze Zeit später identifizieren konnte. Der Staatsschutz ermittelt.

Am folgenden Tag rief das Netzwerk »Hoyerswerda hilft mit Herz«
zu einer Solidaritätskundgebung auf, bei der sich etwa 60 Menschen vor dem Flüchtlingsheim versammelten. Auf der Kundgebung berichtete der angegriffene Marokkaner, dass die Polizei ihn nach dem Angriff nicht ins Krankenhaus gebracht habe. Somit wurde ihm keine medizinische Hilfe zuteil, entsprechend kann er auch kein ärztliches Attest für den Angriff vorweisen. Im Gespräch mit dem Webportal netz-gegen-nazis.de berichtete er, in den zwei Monaten zuvor, in denen er in der Erstaufnahmestelle in Chemnitz untergebracht wurde, sei das Leben besser gewesen. In Hoyerswerda dagegen fehlten Freizeitangebote. Auch die Verständigung falle schwer. Einen Kaffee zu bestellen, ist für Flüchtlinge in der ostsächsischen Kleinstadt nicht einfach.

Eine Gruppe Pakistaner berichtete auf der Kundgebung, dass an den Abenden immer wieder Autos vor dem Heim hielten, deren Insassen »Ausländer raus!« riefen. Aber vor allem in der Stadt kommt es immer wieder zu rassistischen Drohungen, Beleidigungen und sogar Übergriffen. Mohsin Rehman aus Pakistan berichtete, dass eine Gruppe kahlköpfiger Neonazis auf offener Straße bedrohlich auf ihn gezeigt habe, weshalb er nicht mehr allein aus dem Heim gehe, erst recht nicht am Abend. Zwei Frauen erstatteten Anzeige, weil sie von »jungen deutschen Männern« bedroht worden waren. Diese hatten eine Libyerin mit dem Auto bedrängt und waren auf dem Bürgersteig auf sie zugefahren, als sie gerade ihren Kinderwagen zum Einkaufscenter schob. Die Frau hatte ein Kopftuch getragen.

Eine wirkungsvolle Drohkulisse dient der Etablierung einer No-Go-Area.
Dies ist das erklärte Ziel der ostsächsischen Neonazis. Dazu braucht es meistens keine konkrete Gewaltanwendung, ernst zu nehmende Drohungen reichen oft schon aus. So berichtete Muhammad Afzal Spiegel Online, dass ein Auto mit drei Insassen dicht an ihm vorbeigefahren sei, einer der Männer habe währenddessen mit seiner Hand angedeutet, ihm den Kopf abzuschneiden. »Das hat mir Angst gemacht«, so Afzal. Eine Syrerin wurde ebenfalls von einem Autofahrer bespuckt und beschimpft. Ein 28jähriger Tunesier wurde vor einem Geschäft angepöbelt und angespuckt. Vorausgegangen war der Attacke eine Auseinandersetzung in einem Supermarkt.

Die alltägliche Ablehnung hat einige Bewohner der Flüchtlingsunterkunft im April dazu bewogen, sich in einem offenen Brief an die Bevölkerung von Hoyerswerda zu wenden. Darin entschuldigen sie sich für ihre mangelnden Deutschkenntnisse und bedanken sich zugleich für die bisherige Unterstützung. Am Herzen liege ihnen vor allem ihre Sicherheit, besonders die ihres Nachwuchses. Sie bitten darum, dass »unsere Kinder keine Angst mehr auf dem Schulweg haben müssen« und »die Mütter sich nach den letzten Übergriffen wieder allein zum Einkaufen trauen« können.

Zwei Tage nach der Veröffentlichung des offenen Briefs kam es zu einem ersten direkten Angriff
auf die Flüchtlingsunterkunft, in der rund 85 Erwachsene und 32 Kinder untergebracht sind. Um drei Uhr nachts versuchte ein 25jähriger mit einem Hammer eine Fensterscheibe im ersten Stock zu zertrümmern. Das Sicherheitsglas hielt, trotzdem fielen tellergroße Scherben auf das Kopf­ende eines Bettes, das sich hinter dem Fenster befand. Und obwohl das Polizeirevier in unmittelbarer Nähe zum Wohnheim liegt, traf die erste Streife erst 20 Minuten nach dem Notruf ein. Die Bewohner flüchteten vor die Tür ihrer Unterkunft, der Angreifer verschwand. »Vielleicht war es ja auch bloß der Osterhase, der ein paar nette Überraschungen bringen wollte«, höhnten die Betreiber der lokalen »Nein zum Heim«-Facebookseite. Die Initiative, die der NPD nahestehen soll, hat im Internet über 2 300 Fans. Das Netzwerk »Hoyerswerda hilft mit Herz« kommt dagegen gerade einmal auf 249 Unterstützer.

Bei den Befürwortern der Flüchtlingsunterkunft ist das Gefühl entstanden, dass die Neonazis machen können, was sie wollen. Mathias Buchner von der Initiative »Pogrom 91« sieht den »Bürgermeister und die Ordnungsbehörden in der Pflicht«, endlich den Schutz der Heimbewohner zu gewährleisten. Gerade weil die jüngsten Ereignisse zeigten, dass »es trotz der zu begrüßenden Arbeit der Bürgerinitiative ›Hoyerswerda hilft mit Herz‹ viele Menschen in der Stadt gibt, die den Geflüchteten ablehnend gegenüberstehen und auch nicht davor zurückschrecken, sie anzugreifen«, gelte es, den sächsischen Innenminister Markus Ulbig (CDU) daran zu erinnern, dass es Aufgabe der Polizei sei, »die Menschen in Sachsen zu schützen«. Zum Schutz der Flüchtlinge fordern die Antifa-Aktivisten von »Pogrom 91«, die Fami­lien schnellstmöglich dezentral unterzubringen.

Skora treibt dagegen die Sorge um, dass die rassistisch motivierten Übergriffe einiger weniger »uns alle in der Öffentlichkeit« diskreditierten. Im Internet bedient er das Stereotyp, wonach »Medienvertreter« gern von ihren regionalen Problemen ablenkten, indem sie mit dem Finger auf Hoyerswerda zeigten. Pathetisch beendet er sein Statement mit dem Slogan eines jeden Heimatschützers: »Unsere Heimatstadt und ihre Menschen haben das nicht verdient.«

Donnerstag, 15. Mai 2014

Hamburg, keine Perle

Während in einem noblen Hamburger Stadtteil gegen die Errichtung einer Flüchtlingsunterkunft protestiert wird, versucht die örtliche Arbeitsagentur, Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen. Allerdings nicht aus humanitären Gründen.

Ralf Fischer / Jungle World


Das Tor zur Welt ist nicht für alle offen. Seit Ende vorigen Jahres bekannt wurde, dass im Hamburger Stadtteil Harvestehude das ehemalige Kreiswehrersatzamt zu einer Unterkunft für Flüchtlinge umgebaut werden soll, regt sich gutbürgerlicher Widerstand. Die Stadt Hamburg plant, in dem Gebäude für die kommenden zehn Jahre insgesamt 23 Wohnungen mit zwei bis acht Zimmern für maximal 220 Bewohner einzurichten. Hauptsächlich sollen darin Familien untergebracht werden.

Unterkünfte für Flüchtlinge werden in Hamburg dringend benötigt.
Die dortige Innenbehörde rechnet in diesem Jahr mit 4 600 Anträgen auf Asyl, im Vergleich zum Vorjahr wäre das eine Steigerung um 28 Prozent. Angesichts der schon derzeit stark begrenzten Kapazitäten in Hamburg ist das keine leichte Aufgabe. Die Zentrale Erstaufnahme an der Sportallee ist mit 427 Menschen bereits überfüllt, weshalb in der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im mecklenburg-vorpommerischen Nostorf/Horst weitere Plätze für die Hansestadt bereitgehalten werden. In Hamburg planen die Behörden zusätzliche Containerdörfer und Schlafplätze, damit Asylbewerber nicht mehr in Zelten und Schlafsälen leben müssen. So wurden bisher im Stadtteil Bahrenfeld 688 Plätze in Wohncontainern geschaffen, zum Teil auf einem Areal, das in den Sommermonaten von der Roma und Cinti Union e. V. als Durchreiseplatz für ihre Wohnwagen genutzt wurde. Dort sollen nun weitere Container mit 100 Schlafplätzen aufgestellt werden. Für die Roma und Sinti wird in Zukunft auf dem Parkplatz Braun, wo der Hamburger Sportverein (HSV) im Rahmen des Stellplatznachweises für das Stadion Stellplätze vorhalten muss, in den Sommermonaten Platz für ihre Wohnwagen geschaffen. Darüber hinaus ist ein weiteres Containerdorf in Niendorf geplant, zusätzliche Schlafplätze sollen in Harburg geschaffen werden.

Doch nirgendwo ist der Widerstand gegen die Aufnahme von Flüchtlingen derart ausgeprägt wie in Harvestehude. Die hier wohnhafte Oberschicht fühlt sich in ihrer Ruhe gestört. Angeblich um das Wohlergehen der Flüchtlinge besorgt, führen die Gutbetuchten häufig die schlechte beziehungsweise fehlende soziale Infrastruktur an. »Die sind hier eigentlich insofern nicht so gut aufgehoben, weil sie sich hier nicht wohlfühlen werden. Und wo sollen sie einkaufen? Die haben doch nicht so viel Geld, um hier in den Geschäften einzukaufen. Gehe ich mal von aus«, versuchte sich eine besorgte Anwohnerin gegenüber Spiegel TV in gutbürgerlicher Blockadehaltung gegen den baldigen Zuzug von Fremden. Fremde, wohlgemerkt, ohne ein gut gefülltes Bankkonto. Um sich nicht gleich als ordinärer Rassist zu outen, werden die absurdesten Einwände gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in der direkten Nachbarschaft bemüht: »Diese Leute haben einen Nachholbedarf, der wird immer bleiben. Auch noch in Generationen. Und sie wollen versuchen, einen gewissen Standard zu erreichen, und das geht in vielen Dingen nicht auf dem normalen Weg.«

Die verklausulierte Angst vor dem Diebstahl der eigenen Werte entspringt dem Wissen um die eigene Skrupellosigkeit beim Erwerb eben jener. Ähnlich gerieren sich die Verfechter der eigenen kulturellen Überlegenheit: »Ich sage mal, dass die nicht so die Etikette haben. Ein bißchen unachtsam sind«, erläutert ein älterer Herr seine Abneigung. Die Beibehaltung der Segregation bezüglich Bildungs- und Einkommensniveau ist vor allem bei Markus Wegner, der in den neunziger Jahren Gründer der STATT-Partei war und derzeit Mitglied der Alternative für Deutschland (AfD) ist, das bestimmende Motiv für sein Engagement. »Die gehen raus und sehen, dass ein Stück Torte 6,50 Euro kostet und der Armani-Anzug im Schaufenster mehrere Tausend Euro. Das ist doch absurd«, echauffierte er sich in der Hamburger Morgenpost. Um die Parallelgesellschaft in Harvestehude zu erhalten, spricht sich Wegner für kleinere Unterbringungseinheiten, der nachhaltigen Integration wegen, und »ein normales Umfeld mit Nachbarn« aus. Wenn es nach ihm ginge, soll es den Flüchtlingen an nichts mangeln, überall, nur nicht in seiner direkten Nachbarschaft.

Die Möglichkeit einer negativen Auswirkung auf die Immobilienpreise schließen selbst die Befürworter nicht aus. Doch ausgerechnet ein Luxusimmobilieninvestor, der in unmittelbarer Nachbarschaft mehrere Villen und teure Wohnungen baut, hat sich bereit erklärt, die Flüchtlinge finanziell zu unterstützen und Geld für die Hausaufgabenhilfe bereitzustellen. »Es sollen hier Menschen untergebracht werden, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Diese Familien brauchen unsere Hilfe und deshalb kann ich nicht verstehen, wenn es Nachbarn gibt, die etwas dagegen haben«, sagte Uwe Schmitz von der Frankonia Eurobau dem Hamburger Abendblatt. Darüber hinaus haben sich Anwohner zur Flüchtlingsinitiative Harvestehude zusammengeschlossen, um den Flüchtlingen bei Behördengängen zu helfen, eine Kinderbetreuung zu organisieren und Deutschkurse anzubieten.

Solche Kurse können entscheidend sein für die Zukunft der Flüchtlinge.
Nach Recherchen der Taz läuft »ungeachtet der Öffentlichkeit« schon seit Mitte Februar eine »konzertierte und konspirative Operation« der Ausländerbehörden sowie Arbeitsagenturen in mehreren deutschen Großstädten. Dabei handelt es sich um das Projekt »Xenos – Arbeitsmarktliche Unterstützung für Bleibeberechtigte und Flüchtlinge«. Im Rahmen dieses Vorhabens leitet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Daten von Flüchtlingen, die Chancen auf einen Aufenthaltsstatus haben, an die jeweiligen Arbeitsagenturen weiter. Dort soll dann den Flüchtlingen die Integration in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen ermöglicht werden. Bisher wird dieses Projekt in den Städten Augsburg, Bremen, Dresden, Freiburg, Köln und Hamburg erprobt. Damit sich niemand falsche Hoffnungen macht, stellte der Geschäftsführer der Hamburger Arbeitsagentur, Sönke Fock, klar: »Das ist kein humanitäres Projekt.« Vielmehr ist der Fachkräftemangel auf dem deutschen Arbeitsmarkt der Grund für solche Maßnahmen. Allein in Hamburg fehlen nach Angaben der dort ansässigen Wirtschaft weit über 30 000 Fachkräfte. »Es soll erkannt werden, welches Potential und welche Qualifikation in dem Menschen vorhanden ist, damit diese Person auf dem deutschen Arbeitsmarkt verwertet werden kann«, sagte Fock der Taz. In den vergangenen drei Monaten sind in Hamburg 170 Personen aus den Flüchtlingsunterkünften der Arbeitsagentur gemeldet worden. Noch ist die Teilnahme freiwillig.

Derzeit wird in der Großen Koalition diskutiert, ob grundsätzlich alle langjährig Geduldeten eine Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten sollen, sofern sie nachweisen können, dass sie ihren Lebensunterhalt verdienen können, über ausreichende Sprachkenntnisse verfügen und keine Straftaten begangen haben. Zugleich sollen die Behörden Asylbewerber jedoch leichter in Haft nehmen können, wenn diese »unter Umgehung einer Grenzkontrolle eingereist« sind, ihre Identitätspapiere wie Ausweise vernichtet oder »eindeutig unstimmige oder falsche Angaben gemacht« haben. Die Kriterien würden auf einen bedeutenden Teil der Asylbewerber zutreffen. Pro Asyl spricht deshalb von einem »gigantischen Inhaftierungsprogramm«.