Mittwoch, 30. April 2014

How deep is your state?

Mit Thomas Richter alias »Corelli« ist ein wichtiger Zeuge im NSU-Prozess verstorben. Das bewegt manche Beobachter zu wilden Spekulationen.

Ralf Fischer / Jungle World


Zu den Todesfällen, die im Zusammenhang mit dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) stehen, ist ein weiterer hinzugekommen. Thomas Richter, unter dem Namen »Corelli« jahrelang als Spitzel des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) geführt, wurde Anfang April tot in seiner Wohnung im Landkreis Paderborn aufgefunden. Beamte des Bundeskriminalamts (BKA) waren eigens für eine erneute Befragung des im Zeugenschutzprogramm untergebrachten 39jährigen angereist. Den Ergebnissen der Obduktion zufolge starb Richter an einem nicht erkannten Diabetes. Der amtlichen Untersuchung zufolge liegen keinerlei Anzeichen für eine Fremdeinwirkung vor.

Thomas Richter machte sich in der bundesweiten Neonaziszene
einen Namen als Herausgeber der Zeitung Nationaler Beobachter, als Betreiber mehrere Internetseiten und als Gründer des »Nationalen Widerstands Halle/Saale«. Anfang der neunziger Jahre wurde er Mitglied der »International Knights of the Ku-Klux-Klan« (KKK), einem Ableger des rassistischen Geheimbunds aus den USA. Später trat er zusammen mit Achim Schmid und einem weiteren KKK-Mitglied wieder aus der Organisation aus und wirkte in der 2000 im baden-württembergischen Schwäbisch Hall gegründeten Sektion »European White Knights of the Ku-Klux-Klan« mit, die bis 2003 existierte. Zu den konspirativen Kapuzenmännern gehörten auch zwei Polizeibeamte der Böblinger Bereitschaftspolizei. Dem Untersuchungsbericht des baden-württembergischen Innenministeriums zufolge war einer der Polizisten schwerpunktmäßig an Einsätzen bei Delikten mit »rechtem Hintergrund« beteiligt. In derselben Einheit der Bereitschaftspolizei arbeitete später auch die 2007 in Heilbronn mutmaßlich vom NSU erschossene Michèle Kiesewetter. In seinen Berichten für das BfV teilte Richter damals mit, dass mehr als nur zwei Polizisten Mitglieder des Klans gewesen seien. Als »Kleagler«, offizieller Anwerber des KKK, hatte er den dazu nötigen Einblick in die Mitgliederstruktur des Geheimbunds.

Ein Beamter des BfV bezeichnete Richter als »Spitzenquelle«. Dieser verriet Interna über die rechtsextreme Szene in Sachsen-Anhalt, Thüringen, Baden-Württemberg und Sachsen sowie über die bundesweite Organisation »Blood & Honour«. Drei Jahre lang spitzelte Richter für das Landesamt für Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt, danach weitere zehn Jahre für das Bundesamt. In dieser Zeit zahlte ihm der Inlandsgeheimdienst etwa 180 000 Euro. Sogar Richters Reisekosten samt Spesen aus Anlass eines Treffens des Ku-Klux-Klans in den USA wurden erstattet.

Gegenüber den im Fall der NSU-Morde und -Brandanschläge ermittelnden Behörden war Richter nicht gesprächig. In den Vernehmungen durch das BKA bestritt er, das Trio oder eines seiner Mitglieder gekannt zu haben. Erst der Sonderermittler des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags, der frühere Richter Bernd von Heintschel-Heinegg, fand in Akten des Verfassungsschutzes Beweise dafür, dass »Corelli« zumindest 1995 »unmittelbaren Kontakt zu Mundlos« hatte. Im Februar wurde darüber hinaus dem Hamburger Verfassungsschutz eine CD mit brisantem rechtsextremem Material zugespielt, das zum Teil Thomas Richter zugeordnet werden konnte. In einigen Texten auf der CD ist von einem »Nationalsozialistischen Untergrund« die Rede – beschriftet ist die spätestens 2006 erstellte CD mit dem programmatischen Titel »NSU/NSDAP«.

Mit seiner Verlobten lebte Thomas Richter bis 2012 in Leipzig, wo er weiterhin das Internetportal »Nationaler Demonstrationsbeobachter« betrieb. Auf Demonstrationen fotografierte er Gegendemonstranten, um die Bilder anschließend ins Netz zu stellen. Dann half ihm der Geheimdienst, in Nordrhein-Westfalen neu anzufangen, um ihn vor möglichen Racheakten zu schützen.

Für Verschwörungstheoretiker ist der Fall »Corelli« ein gefundenes Fressen: »Corellis Tod beschert jener größtmöglichen Koalition aus CDU, SPD und – ja! – selbsternannter Bürgerrechtspartei Die Grünen eine Atempause. Sind es doch die Grünen, die vor allem in Stuttgart, wo sie regieren – aber auch seinerzeit im entsprechenden Bundestagsausschuss in Berlin –, alles daransetzen, eine rückhaltlose Aufklärung zu hintertreiben«, schreiben nicht etwa irgendwelche Truther oder Infokrieger, sondern der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik und der Politikwissenschaftler Hajo Funke. Gemeinsam raunen sie in der Taz: »Als Todesursache gab die Polizei den Klassiker aller unaufgeklärten und nicht aufzuklärenden Todesfälle bekannt: eine ›unentdeckte‹ Diabetes. Ein veröffentlichter Obduktionsbericht liegt nicht vor.«

Altgediente Verschwörungstheoretiker wie Henning Lindhoff, stellvertretender Chefredakteur des neurechten, libertären Magazins Eigentümlich frei, vertreten dagegen die Ansicht, dass es sich beim Tod von Thomas Richter um einen tragischen Zufall gehandelt hat: »Eine kryptisch formulierte Todesursache ruft stets Zweifler auf den Plan. Das wissen Polizeibeamte und Verfassungsschützer sicherlich nur allzu gut.« Sie hätten seinen Tod nicht mit einer »nicht erkannten Diabetes-Erkrankung« begründet, »die Raum für viele Fragen« lasse, schreibt Lindhoff. Das sehen Brumlik und Funke jedoch anders. Die beiden behaupten: »Die nicht anders als kriminell zu bezeichnende Energie aber, mit der die Sicherheitsexekutive und ihre parlamentarischen Wasserträger die Aufklärung des NSU-Skandals verhindern wollen, gefährdet die bundesrepublikanische Verfassung, unterhöhlt das Vertrauen der Bürger in die Demokratie und schafft eine Sphäre jenseits des Rechtsstaates.« Dass die Vernichtung von Akten nicht das Vertrauen in die bundesrepublikanischen Behörden stärkt, ist offensichtlich. Doch die Behauptung, die beauftragten Abgeordneten wären allesamt nicht an einer Aufklärung interessiert, entbehrt jeder Grundlage. Gerade die Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern haben bisher mehr Ergebnisse gebracht als andere Aufklärungsversuche.

Für die beiden emeritierten Wissenschaftler aber ist die Bundesrepublik auf dem besten Weg zu einer autoritären Bananenrepublik: »Beim Nato-Partnerland Türkei ist treffend von einem ›tiefen Staat‹ die Rede, einer jenseits der oberflächlich funktionierenden modernen Verwaltung wirkenden Koalition aus Militär, Geheimdienst und Polizei. Die deutsche Situation stellt sich noch dramatischer dar, führen doch hier nicht nur Dienste und Behörden ein politisch unkontrolliertes Eigenleben, sondern die gewählten demokratischen Institutionen selbst schirmen dieses Eigenleben vor der Öffentlichkeit ab.« Dass die »deutsche Situation« tatsächlich dramatischer ist als die türkische, darf stark bezweifelt werden. Aber die Beschwörung dieses Horrorszenarios hat auch eine entlastende Funktion: Brumlik und Funke müssen kein Wort über das Versagen der vielgerühmten »Zivilgesellschaft« verlieren und keinen Hinweis auf die Tatsache geben, dass auch die Presse nur zu gern von »Dönermorden« berichtete.

Dabei wollen Funke und Brumlik nur das Beste, denn andernfalls droht aus ihrer Sicht ein Rückfall in vergangene Zeiten: »Der NSU-Skandal, dieser noch nicht deutlich genug als Ausnahmezustand erkannte Fall von bewusstem und gewolltem Staatsversagen, beweist, dass Teile der Institutionen aktiv daran beteiligt sind, an die Stelle des demokratischen Souveräns die Souveränität vermeintlicher Staatsschützer zu setzen. Die DDR, die freilich nicht über die Camouflage einer liberalen Alltagskultur verfügte, folgte derselben Logik.« Dass das Morden des NSU der Herbeiführung einer Einparteienherrschaft samt marodierendem Geheimdienstwesen dienen sollte, ist zumindest eine originelle Erklärung. Erhellend ist sie jedoch nicht.

Donnerstag, 24. April 2014

Gesund genug fürs Ehrenamt

Die gesundheitliche Versorgung von Flüchtlingen birgt tödliche Risiken. Die Versuche, ihre Lage in anderen Lebensbereichen wie der Beschäftigung zu verbessern, sind zwiespältig.

Ralf Fischer / Jungle World


Die gesundheitliche Versorgung von Asylbewerbern ist in Deutschland keine Selbstverständlichkeit. Diese Tatsache kostete Anfang April einen vier Wochen alten Jungen das Leben. Gegen die Kinder- und Jugendklinik »Auf der Bult« in Hannover erhebt eine aus Ghana stammende Mutter schwere Vorwürfe. Die Klinik habe die Behandlung ihres Säuglings abgelehnt, weil sie keinen Behandlungsschein habe vorweisen können. Kurz darauf starb das Kind.

Die Klinikleitung bestreitet die Anschuldigungen. Man schicke keine Kinder weg, sagte der Ärztliche Direktor der Klinik, Thomas Beushausen, der Taz, das Versicherungsverhältnis habe man später geklärt. Die drei zuständigen Mitarbeiter hätten in der Situation keinen Notfall erkannt, außerdem sei die Verständigung »sehr schwer« gewesen.

Der Säugling hatte
schon seit seiner Geburt unter Atemproblemen gelitten, weshalb er schon zuvor einmal in die Kinderklinik »Auf der Bult« eingewiesen worden war. Die gesundheitlichen Probleme waren also bereits aktenkundig. Die Mutter erklärte, sie sei, nachmdem man sie abgewiesen habe, mit dem Bus zu einer Kinderärztin gefahren. Dieser bereitete es offenbar keine Probleme, sich mit der Frau zu verständigen. Sie ließ den Sohn umgehend in die Klinik einweisen. Doch er verstarb noch im Krankenwagen. Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos.

Dies ist kein Einzelfall. In Bayern wurden Mitte April drei Mitarbeiter des Zirndorfer Aufnahmelagers, die einem schwer kranken Flüchtlingskind die medizinische Hilfe verweigert hatten, vom Amtsgericht Fürth zu Geldstrafen verurteilt. Der Junge litt an einer Meningokokkeninfektion, hatte hohes Fieber und bereits schwarze Flecken im Gesicht, an den Armen und den Beinen. Sein Leben konnte später im Klinikum Fürth nur mit größter Mühe gerettet werden, er verlor einen Finger und einen Zeh und musste sich mehreren Hauttransplantationen unterziehen. Eine Angestellte des Aufnahmelagers muss eine Geldstrafe in Höhe von 2 400 Euro zahlen, ein Pförtner 2 700, ein weiterer 3 000 Euro. Die verurteilten Mitarbeiter sollen nach Angaben der mittelfränkischen Bezirksregierung zukünftig nicht mehr in dem Aufnahmelager eingesetzt werden. Alle anderen Mitarbeiter des Pförtnerdienstes wurden angewiesen, »in Notfällen stets den ärztlichen Bereitschaftsdienst oder Notärzte zu verständigen«. Ein Krankenschein sei dabei in keinem Fall nötig.
Das Problem ist jedoch nicht nur individuelles Fehlverhalten, sondern vor allem die bestehende Regelung, wonach Flüchtlingen eine Behandlung nur bei akuten Erkrankungen zugestanden wird. Sie wird nicht nur regional unterschiedlich ausgelegt, sondern sorgt auch für eine große Verunsicherung des medizinischen Personals in der Frage, was genau als akute Erkrankung anzuerkennen ist. Viele Ärzte wissen zudem nicht, welche Behandlungskosten sie bei Flüchtlingen abrechnen können. Derart im Ungewissen gelassen, ist die Einhaltung des hippokratischen Eids offensichtlich keine Selbstverständlichkeit mehr.

Die strukturell bedingte Gefährdung der Hilfsbedürftigen
beginnt jedoch in der deutschen Bürokratie. In den ersten vier Jahren ihres Aufenthaltes benötigen Flüchtlinge, die einen Arzt aufsuchen wollen, einen Krankenschein, den sie in der Regel nur nach einem persönlichen Vorsprechen bei der Sozialbehörde erhalten. Dieses Prozedere, das im Asylbewerberleistungsgesetz festgelegt ist, setzt Kranke potentiell tödlichen Risiken aus. Die Ausstellung eines Krankenscheins durch die Sozialbehörden oder das Auslösen des Notrufs in medizinischen Notfällen liegt in der Hand von unzureichend geschultem Personal, was einerseits Willkür und persönliche Abhängigkeiten erzeugt, andererseits zur Überforderung der Verantwortlichen führt. Gravierende Fehleinschätzungen und verweigerte Hilfe wie im bayerischen Zirndorf sind nicht ungewöhnlich. Das gesundheitliche Wohlergehen von Flüchtlingen wird durch die bestehende Gesetzeslage systematisch aufs Spiel gesetzt.

Ein schwacher, zwiespältiger, aber derzeit vieldiskutierter Trost
ist da der Versuch, die Lebensverhältnisse von Asylbewerbern in einem anderen Bereich zu verbessern. So gibt es Bemühungen, Flüchtlingen im Rahmen lokaler Initiativen eine ehrenamtliche Arbeit zu beschaffen. Im baden-württembergischen Schwäbisch Gmünd hat der Oberbürgermeister Richard Arnold (CDU) für die Vorbereitung der Landesgartenschau Flüchtlinge als Helfer rekrutiert. Im vergangenen Sommer sorgte Arnold schon einmal für Schlagzeilen, und nicht nur für positive. Er hatte Asylbewerber als Gepäckträger am Bahnhof engagiert – für 1,05 Eu­ro die Stunde. Erst nach überregionalen Protesten wurde das Projekt beendet.

Derzeit folgen die Bewohner des Flüchtlingsheims der Einladung des Oberbürgermeisters, freiwillig und ehrenamtlich beim Anlegen von Blumenbeeten zu helfen. »Ich bin der Oberbürgermeister einer Stadtgemeinschaft. Alle gehören hier dazu, auch die Flüchtlinge gehören dazu, das heißt, die Projekte, die wir hier machen, sind die Projekte von allen, also auch von den Flüchtlingen«, sagte der Politiker im Deutschlandfunk. Was manchen Beobachtern ausbeuterisch und zynisch erscheint, ist für die zur Untätigkeit gezwungenen Flüchtlinge eine willkommene Abwechslung. »Wir haben gesagt: Wenn sie Arbeit für uns haben, machen wir alles. Der Oberbürgermeister sagte: Ja. Alles machen wir. Egal, damit ich was zu tun habe, deswegen. Als Teil dieser Stadt möchte ich mich hier einbringen und werde ­Tickets kontrollieren«, berichtete ein freiwilliger Teilnehmer dem Deutschlandfunk.

Flüchtlingsorganisationen befürchten nicht zu Unrecht, dass die unbezahlte oder nur mit einer geringen Aufwandsentschädigung vergütete Arbeit irgendwann zur Pflicht werden könnte. Für viele Flüchtlinge ist es ein verlockendes Angebot, um der Langeweile in den Unterkünften zu entfliehen. Zugleich bieten solche Vorhaben eine Möglichkeit für ehrgeizige Lokalpolitiker, ihre hochtrabenden Projekte mit billigen Arbeitskräften zu verwirklichen.

Im hessischen Bad Salzschlirf übernahmen Asylbewerber kürzlich die Arbeit der Straßenreinigung. Beim sogenannten Osterputz pflegten sie die öffentlichen Grünanlagen und fegten die Bürgersteige sowie Parkplätze zur Freude der Fuldaer Zeitung »blitzblank«. Als Dankeschön vergütete der Landkreis Fulda die gemeinnützige Tätigkeit mit 1,05 Euro pro Arbeitsstunde und einem kostenlosen Mittagessen. »Die Langeweile und das Warten auf den Ausgang des Asylbewerberverfahrens sind sehr belastend«, sagte der Initiator des Projekts, Herbert Post. »Insofern war eine sofortige Bereitschaft zur Mitarbeit da und die Stimmung bei der Arbeit war ausgesprochen gut«, gab er zufrieden der Fuldaer Zeitung zu Protokoll.

Donnerstag, 10. April 2014

Brandenburg lebt.

Die Bevölkerungsentwicklung in Brandenburg ist weniger dramatisch, als es die Nazipropaganda gern hätte.

Ralf Fischer / Jungle World


Brandenburg stirbt aus, schuld daran sind die bundesdeutschen Demokraten – so lässt sich die extrem rechte Propaganda zusammenfassen, die eine Gruppe mit dem klangvollen Namen »Spreelichter« mit ihrer sogenannten »Volkstod-Kampagne« verbreitete. Bis zum Verbot der »Widerstandsbewegung in Südbrandenburg«, wie sich die Spreelichter auch nannten, im Juni 2012 marschierten ihre Anhänger, mit weißen Theatermasken und mit Fackeln ausgestattet, durch kleinere Städte in Ostdeutschland.

Die Auftritte der brandenburgischen Neonazis erinnerten einerseits an die Fackelzüge
der Nationalsozialisten, andererseits hatte zuvor schon die linke Kampagne »Die Überflüssigen« weiße Masken verwendet. Mit aufwendig produzierten Videos von den Aufmärschen konnten die rechtsextremen Organisatoren ihre Propaganda, »die unmissverständlich das System als Grund dafür erkennt und benennt, dass unser Volk seinem Tod entgegengeht«, in sozialen Netzwerken verbreiten. Dem Potsdamer Politikwissenschaftler Gideon Botsch zufolge gelang es den Neonazis, »neue Medien und neue Aktionsformen« zu erschließen, womit sie »teilweise ihre Marginalisierung durch den Mainstream etwas durchbrechen« konnten.

Mit dem Verbot der »Widerstandsbewegung in Südbrandenburg« wegen »Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus« und »aktiv-kämpferischen Vorgehens gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung« war vorerst auch die »Volkstod-Kampagne« der Spreelichter beendet. Von der Mischung aus Panikmache, völkischem Populismus und Propaganda in sozialen Netzwerken wollte die brandenburgische Neonaziszene aber nicht lassen. Bereits Anfang des Jahres riefen Nazis zu einer Demonstration unter dem Motto »Sieh nicht zu, wenn deine Stadt stirbt – werde aktiv« in der Kleinstadt Wittenberge auf. Dazu erstellte die Gruppe »Freie Kräfte Neuruppin« gemäß den bisherigen Erfahrungen ein professionelles Mobilisierungsvideo, in dem drastisch vor dem Einwohnerschwund der Stadt gewarnt wird: »Abwanderung, Arbeitslosigkeit, Vergreisung und Armut – und ihr? Ihr redet von Aufschwung?«

Trotz der langfristigen Mobilisierung kamen am vergangenen Wochenende aber nur 200 Neonazis aus Nord- und Ostdeutschland zu der Demonstration. Die Gegendemonstranten waren in Wittenberge in der Überzahl. Immer wieder kam es zu kleineren Blockadeversuchen, eine größere Blockade beendete den Naziaufmarsch endgültig. Frustriert fanden sich später etwa 70 Rechtsextreme »wegen der staatlichen Repressionen in Wittenberge« im 70 Kilometer entfernten Neustadt/Dosse ein. Der spontane, halbstündige Aufmarsch führte in Polizeibegleitung vom Bahnhof durch drei Straßenzüge und wieder zurück. Die geringe Resonanz könnte sich auch darauf zurückführen lassen, dass der Rückgang der Bevölkerung in Brandenburg im Gegensatz zu dem in anderen ostdeutschen Bundesländern keineswegs dramatisch ist. Derzeit wird prognostiziert, dass die Bevölkerungszahl bis zum Jahr 2030 um 5,8 Prozent auf 2,36 Millionen Einwohner sinken wird. Im Berliner Umland wird für die Zukunft ein Bevölkerungsanstieg erwartet, während in den weiter von der Hauptstadt entfernten Gegenden ein Rückgang zwischen zehn und 20 Prozent vorausgesagt wird.

Am Tag vor dem versuchten Aufmarsch in Wittenberge hielt die NPD zwei Kundgebungen in Wandlitz und Bernau ab, ein kleiner Vorgeschmack auf die Wahlkämpfe in diesem Jahr. Die Partei hatte die Kundgebungen nicht angekündigt, um Proteste zu erschweren. Trotzdem sah sie sich in beiden Orten mit Gegendemonstranten konfrontiert. In Bernau standen acht Neonazis einer Allianz von SPD, CDU, Linkspartei und »Bündnis für Bernau« gegenüber.

Solche Szenen dürften sich in den nächsten Monaten wiederholen.
Für den diesjährigen Landtagswahlkampf kündigt die NPD 100 Kundgebungen, über 50 000 Plakate und eine Million Flugblätter an. Der Landesvorsitzende Klaus Beier tritt als Spitzenkandidat an, als Wahlkampfleiter wurde der Berliner Landesvorsitzende Sebastian Schmidtke vorgestellt. Dass diese von der Partei als »breite Offensive« angekündigte Strategie aufgeht, ist zu bezweifeln. Der Einzug in den Landtag ist wohl so gut wie ausgeschlossen.

Stattdessen scheint sich die NPD auf die Erringung kommunaler Mandate zu konzentrieren. Ohne große Konkurrenz durch die DVU oder andere rechtsextreme Splitterparteien beabsichtigt die Partei, die Zahl ihrer Mandate zu verdoppeln, bisher sind es 27. Mit 115 Kandidaten will die NPD in den Wahlkampf ziehen. Vor allem im südlichen Brandenburg kann sie mit guten Ergebnissen rechnen. Bisher erreichte sie in einigen Gegenden einen Stimmenanteil von über fünf Prozent. Auch die Ergebnisse der symbolischen ­»U-18-Wahl« im September 2013 für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind nicht beruhigend. 5,7 Prozent der beteiligten Jugendlichen stimmten für die NPD. In Südbrandenburg erreichte sie teilweise sogar über zehn Prozent.

Das bei Kindern und Jugendlichen beliebte Krümelmonster wird im Wahlkampf aber keine Rolle mehr spielen. Ende März nahm die Polizei einen Mann fest, der in einem entsprechenden Kostüm vor einer Schule in Senftenberg Flugblätter mit der Aufschrift »Deutsch ist cool« verteilte, sowie seinen Begleiter, der die Szene filmte. Bei den Männern handelte es sich nach Informationen des RBB um einschlägig bekannte Neonazis. Bereits im vergangenen Herbst hatte sich ein als Krümelmonster verkleideter Mann in einem Video damit gebrüstet, einer Oberschule in Lauchhammer ein Schild mit der Aufschrift »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« gestohlen zu haben.

Donnerstag, 3. April 2014

Muttis größte Lüge

Der im Mai 2013 vor dem Münchner Oberlandesgericht eröffnete NSU-Prozess wird voraussichtlich bis 2015 dauern. Die Aufklärung der unzähligen Ermittlungspannen ist im Verfahren kaum von Interesse.

Ralf Fischer / Jungle World



Angela Merkel (CDU) hatte es zugesagt. »Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.« In ihrer Rede auf der offi­ziellen Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremer Gewalt am 23. Februar 2012 in Berlin betonte sie, dass »alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck« an der Aufarbeitung der NSU-Morde und -Anschläge mitwirkten. Zwei Jahre später, beinahe ein Jahr nach dem Prozessauftakt in München, werden die kritischen Stimmen dagegen immer lauter. »Von der Politik ist es verlogen, wenn sie – auch was das Staatsversagen anbelangt – immer auf den Strafprozess verweist. Sie entledigt sich so ihrer Verantwortung und schiebt sie auf das Gericht, das diese Aufgabe gar nicht zu erfüllen vermag«, kritisiert der Nebenklageanwalt Jens Rabe in einem Interview mit dem Weser-Kurier.

Vor allem die schlampige Ermittlungsarbeit der Behörden wird kritisiert.
So überprüfte das Bundeskriminalamt (BKA) vor drei Jahren nur vier von elf Schusswaffen aus dem Zwickauer NSU-Versteck auf Fingerabdrücke. Bekannt wurde diese weitere Ermittlungspanne, weil den BKA-Ermittlern »erst jetzt« die entsprechenden Aktenvermerke dazu aufgefallen seien. Als besonders pikantes Detail stellte sich heraus, dass die Untersuchung der Tatwaffen in neun von zehn Mordfällen ebenfalls bis dato nicht stattfand. Die damalige Entscheidung verteidigt das BKA mit dem Verweis auf technische Probleme: »Die sieben anderen Waffen waren auf Grund der Brandeinwirkung für eine entsprechende Untersuchung nicht geeignet, daher konnten keine daktyloskopischen Spuren ge­sichert werden.« Doch nicht wenige Nebenkläger im NSU-Prozess haben Zweifel an dieser Darstellung. Sie fordern, wie Jens Rabe, endlich Aufklärung. »Das Vorgehen der Polizei ist für mich völlig unverständlich«, so der Nebenklageanwalt. Er fühle sich in seiner Auffassung bestärkt, »dass die Arbeit der Ermittlungsbehörden ständig hinterfragt und kontrolliert werden muss«.

Von den anfänglich mehr als 400 Ermittlern,
die im Auftrag der Bundesanwaltschaft mit den laufenden Ermittlungsverfahren zum NSU-Komplex befasst waren, sind gerade noch 35 Beamte aktiv. Deren Ermittlungstätigkeiten richten sich gegen neun Beschuldigte aus dem Umfeld von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, weil diese unter anderem den untergetauchten Neonazis mit der Bereitstellung von Fahrzeugen, Ausweispapieren oder Krankenkassenkarten geholfen haben sollen. Gegen sie wird ermittelt wegen des Verdachtes der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.

Eine solche Anklage droht womöglich noch weiteren Personen. So ist zum Beispiel die Herkunft der Waffen sowie des Sprengstoffs noch völlig unbekannt. Bislang konnten die Bundeskriminalbeamten lediglich den Beschaffungsweg der Čes­ká-Pistole nachvollziehen, der Tatwaffe, mit der neun Migranten ermordet wurden. Bleiben noch zehn weitere Schusswaffen aus dem Zwickauer NSU-Versteck. Doch nicht nur die Waffenlieferanten sind im Visier der Fahnder. Schließlich sind noch mehrere Verfahren gegen Unbekannt anhängig, weil die Frage, ob es weitere rechtsterroristische Zellen gab und gibt, die vielleicht mit dem Trio kooperierten, bisher nicht vollständig geklärt ist. Eine Mammutaufgabe, die auf zu wenig Schultern verteilt ist.

Ein weiteres Detail ist den Ermittlern bei den Untersuchungen der finanziellen Situation des NSU-Trios aufgefallen. Bei eingehender Auswertung der Beträge, die durch die bisher bekannten Banküberfälle zur Verfügung standen, zeigte sich, dass die im Untergrund lebenden Neonazis sich nicht allein aus den Überfällen finanzieren konnten. Entweder bekamen die Untergetauchten Geld aus bisher unbekannten Quellen oder es sind noch nicht alle kriminellen Aktivitäten des Trios aufgedeckt worden.

Schon im vorigen Jahr wurde bekannt, dass sich Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe mit dem Verkauf des selbstgebastelten Spiels »Pogromly«, ein Würfelspiel in Anlehnung an das Spielprinzip von Monopoly, Geld dazuverdienen wollten. Eine dauerhafte Finanzierung wäre damit nicht möglich gewesen, aber bei der derzeitigen Zeugenbefragung von Juliane Walther, der ehemaligen Freundin des mutmaßlichen NSU-Unterstützers Ralf Wohlleben, erinnerte sich diese, dass sie 1998 gemeinsam mit dem Trio und Wohlleben das Spiel »Pogromly« gespielt habe. Eine Aussage, die so bisher noch nicht vorlag. Nun steht fest, dass Wohlleben nach dem Abtauchen auch privat noch Kontakt zu seinen ehemaligen Mitstreitern hielt. Ansonsten geht es Walther wie so vielen weiteren Zeugen aus der damaligen Neonaziszene, die sich bei ihren Aussagen gegenüber dem BKA noch erinnerten und nun vor dem Münchner Oberlandesgericht schweigen. Entweder berufen sie sich auf den Paragraphen 55 der Strafprozessordnung (das Recht auf Aussageverweigerung, wenn man sich selbst belasten könnte), oder sie behaupten, sie hätten die Erinnerung verloren. Auch Walther sagte vor Gericht aus, dass sie an diese Zeit wenig bis keine Erinnerung habe. Die damaligen Vorkommnisse lägen weit zurück und sie sei damals jung und naiv gewesen.

Walther war damals derart naiv, dass sie, die nach dem Untertauchen des NSU-Trios mit einer Mülltüte voller Kleidung aus Zschäpes damaliger Wohnung spazierte, kurz darauf Geld vom Verfassungsschutz annahm. Der thüringische Verfassungsschutz führte sie unter dem Decknamen »Jule« und hoffte, über sie an die flüchtigen Neonazis heranzukommen. Geld nahm sie bei den zwei Treffen gerne an, konkrete Ergebnisse lieferte sie aber nie. Für Opferanwalt Rabe ist es »ärgerlich, dass so viele dieser Zeugen unter einer Art Generalamnesie zu leiden scheinen«. Ihm und seiner Mandantin Semiya Şimşek bleibt noch als letzte Hoffnung, »dass Beate Zschäpe ihr Schweigen doch noch brechen wird«.

Selbst wenn die geladenen Zeugen reden, ist mit einer Aufklärung kaum zu rechnen.
André Kapke, eine bedeutendes Mitglied der Neonaziszene in Jena, spielt im Zeugenstand das vergessliche Unschuldslamm. »Nun, ich bin wirklich nicht der Sportlichste«, lautete seine dreiste Antwort auf die Frage, ob er an Wehrsportübungen teilgenommen habe. Kapke braucht keine Angst vor einer Strafverfolgung zu haben, seine Hilfe beim Untertauchen des Terrortrios ist längst verjährt. Dementsprechend frech tritt er im Gerichtssaal auf. Auf die Frage des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl, an welchen Demonstrationen er teilgenommen habe, antwortete der 38 Jahre alte Neonazi: »Nichts für ungut, aber ich war schon auf so vielen Demonstrationen.«

Dasselbe Schauspiel führt Kapke auf, wenn die Nebenkläger auf Antworten drängen. Ob nun Fragen nach den Namen von rechtsextremen Bands, nach seiner Verbindung zum Netzwerk »Blood & Honour« oder dem Slogan des Thüringer Heimatschutzes: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte«, der Jenaer Neonazis möchte sich nicht erinnern. »Nehmen sie es mir nicht übel, aber auf so einen Quatsch habe ich keine Lust«, war seine despektierliche Antwort auf die letztgenannte Frage.

Nicht aufgeklärt vor Gericht wurde der Verdacht, dass Kapke gemeinsam mit Ralf Wohlleben durch die Organisation von Rechtsrockkonzerten insgesamt 4 000 D-Mark für die abgetauchten Kameraden sammelte. Das wäre eindeutig als Unterstützung einer terroristischen Vereinigung auszulegen.

Woher das Geld zur Passbeschaffung für Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos stammte, konnten weder die Behörden, noch konnte es das Gerichtsverfahren, aufklären. Bekannt ist nur, dass Kapke »leere Pässe« von einem Kontaktmann des ehemaligen V-Manns Tino Brandt bekam.

Die noch anstehende Befragung des umtriebigen Multifunktionärs in der thüringischen Neonaziszene vor Gericht könnte mehr Aufschluss geben, vor allem, was die möglichen weiteren Geldquellen des NSU betrifft. Nach seinem Outing als Spitzel des thüringischen Verfassungsschutzes bestätigte Brandt, dass er die Gelder des Dienstes für seine politische Tätigkeit außerhalb der NPD, insbesondere für den »Thüringer Heimatschutz«, verwendet habe. Insgesamt soll es sich dabei um 200 000 D-Mark gehandelt haben.