Donnerstag, 27. Februar 2014

Das Recht auf Gesundheit

Nach dem Tod eines Asylbewerbers in einem Plauener Flüchtlingsheim wird gegen den diensthabenden Wachmann wegen unterlassener Hilfeleistung ermittelt. Menschenrechtsorganisationen kritisieren schon lange Mängel bei der ärztlichen Versorgung von in Deutschland lebenden Flüchtlingen.

Ralf Fischer / Jungle World


Der Notarzt kam zu spät. Als er Mitte Februar in der Asylbewerberunterkunft im sächsischen Plauen dem 43jährigen Ahmed J. zu Hilfe eilt, ist dieser schon längst tot. Sein mehrstündiges Martyrium wirft viele Fragen auf. Im Dezember war der Libyer mit seiner schwangeren Frau und dem zehn Monate alten Sohn nach Deutschland geflüchtet, seit drei Wochen lebten sie in der Unterkunft in Plauen. Im Februar wurde er wegen akuter Bauchschmerzen im Vogtland-Klinikum untersucht und noch in derselben Nacht entlassen. Nur einen Tag später soll eine Krankenpflegerin im Asylbewerberheim angerufen und empfohlen haben, dass sich Ahmed J. noch einmal untersuchen lässt, berichtet die Freie Presse.

Doch dazu kam es nicht. In der Nacht seines Todes lag Ahmed J. vor Schmerz gekrümmt in seinem Zimmer. Der Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes sah ihn zwar in diesem Zustand, tat aber nichts. Nachdem ihn die aufgebrachten Heim­bewohner aufgefordert hatten, den Notarzt herbeizuholen, verbarrikadierte er sich hinter seiner Pforte. Erst als einige Flüchtlinge versuchten, ein Fenster aufzuhebeln, wählte der Wachmann den Notruf. Aber statt den Notarzt zu rufen, alarmierte er die Polizei. Zu diesem Zeitpunkt hatten die ersten Asylbewerber auf eigene Faust den Krankenwagen gerufen.

»Drei Stunden haben wir auf Hilfe gewartet. Dann war alles zu spät«,
berichtet der 24jährige Tunesier Saidi. Die Polizei ermittelt gegen den Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes wegen unterlassener Hilfeleistung. Polizeisprecher Jan Meinel bestätigt die Untersuchungen: »Wir ermitteln gegen den Wachmann, weil er fast zwei Stunden keine Hilfe geholt hat – trotz mehrfacher Aufforderung.« Die Flüchtlinge selbst haben lange den Notarzt nicht gerufen, weil unter ihnen das Gerücht kursiert, sie müssten dessen Einsatz aus eigener Tasche bezahlen. Der Zweigstellenleiter des zuständigen Sicherheitsdienstes, Frank Hohmuth, nimmt seinen Kollegen in Schutz: »Es ist schwierig, nachts allein Dienst zu haben. Erst vor kurzem wurde ein Kollege verletzt bei der Schicht.«

Saidi berichtet: »Der Wachmann hatte Angst vor uns. Und wir hatten Angst, dass unser Nachbar stirbt.« Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisiert seit Jahren die mangelnde ärztliche Versorgung von Flüchtlingen und die schlechte Ausbildung des Sicherheitspersonals. »Im Fall Plauen soll nachts ein einziger Wachmann zuständig sein für eine Unterkunft mit 290 Bewohnern. Er ist für die Entscheidung, ob ein Rettungsdienst gerufen wird, sicher nicht qualifiziert«, erklärt die Organisation auf ihrer Internetseite. Sie dringt darauf, dass die Staatsanwaltschaft eine mögliche Mitverantwortung der Leitung des Wachschutzes, der für die Unterbringung zuständigen Kreisbehörde und auch des aufsichtführenden Ministeriums umgehend prüft.

Nach den vorliegenden Ergebnissen der Obduktion starb der Libyer an einer Lungenembolie. Pro Asyl fordert auch eine Untersuchung, ob es möglicherweise eine Verantwortung der behandelnden Ärzte gibt, die Ahmed J. wenige Tage zuvor aus dem Krankenhaus entlassen hatten. Dass inkompetentes Personal mit der Entscheidung über die Nptwendigkeit einer Behandlung befasst wird, liegt ebenso an der im Paragraph 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes beschränkten ärztlichen Behandlung für Asylsuchende. Krankenscheine werden oft erst ausgestellt, wenn Flüchtlinge aufgrund einer akuten und schmerzhaften Erkrankung beim Sozialamt vorsprechen. Nach Meinung der Ämter könne nur so geprüft werden, ob ein Fall des Paragraph 4 vorliegt. Auch dabei bleibt offen, nach welchen Kriterien Sachbearbeiter diese Notwendigkeit prüfen.

Zu prüfen bleiben auch die bisher ungeklärten Umstände des Todes eines Asylbewerbers
im sachsen-anhaltinischen Zeitz. Mitte Februar fanden dort einige Mitbewohner einen 23jährigen Inder tot auf. Direkt vor dem Asylbewerberheim, auf einer Wiese. Die Staatsanwaltschaft vermutet, er sei aus dem Fenster gefallen. Hinweise auf Fremdeinwirkung gebe es bisher nicht. Die Unterkunft in Zeitz war in den vergangenen Monaten wiederholt in den Schlagzeilen. Die Bewohner hatten in einem Brief an den Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt über unzumutbare hygienische Verhältnisse, Ungeziefer und andere Mängel geklagt und eine Schließung dieser Gemeinschaftsunterkunft gefordert. Zuletzt sei jedoch bei unabhängigen und nicht angekündigten Kontrollen festgestellt worden, dass sich die Zustände verbessert haben. Das Problem mangelhafter medizinischer Betreuung aber bleibt bestehen. »Zentralisierte Formen der Unterbringung wie Gemeinschaftsunterkünfte sind nicht geeignet für kranke Menschen, da sie das Risiko bergen, dass Erkrankungen physischer, psychischer Art bzw. Sucht nicht erkannt und entsprechend betreut und versorgt werden«, mahnt der Flüchtlingsrat.

Doch selbst eine dezentrale Unterbringung ändert wenig an dem psychischen Druck, der auf den Flüchtlingen lastet. Im niedersächsischen Bunde mussten Rettungssanitäter in der vorigen Woche drei afghanische Flüchtlinge aus ihrer Wohnung ins Krankenhaus überstellen, weil diese versucht hatten, sich mit Medikamenten umzubringen. Anfang Februar wurde auf Anordnung des zuständigen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge einer dieser Personen mitgeteilt, dass sie nach Italien zurückgeführt werden sollte. Ihr Asylantrag sei in Deutschland nicht zulässig, weil er zuerst in Italien gestellt wurde.

Über die Asylanträge der beiden anderen Flüchtlinge ist vom zuständigen Bundesamt bislang noch nicht entschieden worden. Ein positiver Bescheid ist aber wegen der sogenannten Drittstaatenregelung kaum zu erwarten. Die letzte Zuflucht für abgelehnte Asylbewerber war bisher das Kirchenasyl und die Hoffnung auf den Petitionsausschuss des jeweiligen Landtags. Doch die bayerische Ausländerbehörde will auch diese letzte humanitäre Lücke in der Festung Europa schließen. Sie ließ erstmals in diesem Jahrhundert eine Kirche, in der eine traumatisierte Frau aus Tschetschenien mit ihren vier Kindern Zuflucht gefunden hatte, polizeilich räumen. Die Augsburger Polizeibeamten drangen in das Pfarrhaus ein, nahmen die Familie mit und schoben sie nach Polen ab. Der katholische Bischof Konrad Zdarsa spricht von einem einmaligen Vorgang, der sich nicht wiederholen dürfe.

Die alleinerziehende Mutter war mit ihren Kindern im Alter zwischen vier und 14 Jahren aus Tschetschenien nach Polen geflüchtet. Dort wurde sie in einer Sozialwohnung in Bialystok untergebracht. Tagtäglich erlebte sie extreme Diskriminierung und rassistische Übergriffe durch organisierte Neonazis. Als dann die Wohnung einer tschetschenischen Nachbarin von polnischen Neonazis in Brand gesetzt wurde, floh sie mit ihren Kindern nach Deutschland. In Bayern zeigten sich Flüchtlingsorganisationen in einer gemeinsamen Presseerklärung schockiert über die Abschiebung und forderten, das Kirchenasyl müsse unantastbar bleiben. An Zynismus nicht mehr zu überbieten sei »die Behauptung, die Frau wäre freiwillig mitgegangen«, erklärte die flüchtlingspolitische Sprecherin der Fraktion der Grünen im bayerischen Landtag, Christine Kamm. »Eine Mutter mit vier Kindern hat letztlich keine Chance, sich dem einschüchternden Polizeiapparat zu widersetzen.«

In Berlin schoben die Behörden im Februar eine tschetschenische Familie nach Polen ab, obwohl die Eltern nach Angaben ihrer Anwältin in Tschetschenien schwer gefoltert worden waren. Zwei Kinder der Familie kamen mit Behinderungen zur Welt: Das dreijährige Mädchen ist spastisch gelähmt und kann nicht laufen. Das zweijährige Mädchen hat einen deformierten Kopf, ist fast blind und lag in seinem kurzen ­Leben bereits sechs Mal wegen Hirnoperationen und epileptischer Anfälle mit akuter Lebensgefahr in einer Spezialklinik der Berliner Charité.

Weil die Familie, wie so viele aus Tschetschenien, über Polen nach Deutschland einreiste, muss sie ihren Asylantrag dort stellen. Die dagegen in Deutschland eingelegten Rechtsmittel sind selten erfolgreich, da Polen als sicheres Drittland gilt. Dort sei aber die »erforderliche intensivmedizinische Versorgung der Töchter« nicht gewährleistet, argumentiert die Anwältin der Familie, Julia Kraft. Des Weiteren drohe vielen Flüchtlingen in Polen Obdachlosigkeit, »das ist aufgrund der Krankheit der Töchter und der psychischen Erkrankungen der Eltern wegen erlittener Folter nicht zumutbar«, so Kraft. Doch ein Antrag auf humanitäres Bleiberecht, einen Tag vor der Abschiebung bei der Härtefallkommission, erreichte Innensenator Frank Henkel (CDU) zu spät.

Da die beiden Mädchen Attesten der Charité zufolge einer ständigen medizinischen Überwachung bedürfen, war der Familie zugesichert worden, »dass die Familie ärztlich begleitet nach Polen abgeschoben wird«, berichte der Jesuitenpater Frido Pflüger. Doch die Begleitung endete an der deutschen Grenze. Der Familienvater beklagte im Interview mit der Taz, dass sie »für die fünfstündige Fahrt weder Nahrung noch Windeln bekommen« hätten, und da die deutschen Polizisten vergessen hätten, die Medikamente wieder auszuhändigen, habe seine Tochter auf der Fahrt zwei epileptische Anfälle erlitten. In Warschau angekommen, wurde die Familie in ein abgelegenes Flüchtlingsheim verwiesen. Nach ei­genen Angaben musste die Familie zweieinhalb Kilometer zu Fuß durch einen Wald laufen.

Donnerstag, 20. Februar 2014

Auf schlechte Nachbarschaft

Das Bundesland Sachsen muss in diesem Jahr 8 000 Flüchtlinge aufnehmen. Die Proteste dagegen haben schon begonnen.

Ralf Fischer / Jungle World


Künftig sollen ankommende Asylbewerber auch etwas anderes von Sachsen sehen als Chemnitz. Sie sollen auf die neuen Zentralen Erstaufnahmeeinrichtungen in Dresden und Leipzig verteilt werden. 2013 nahm der Freistaat Sachsen etwa 5 800 Flüchtlinge auf. Dabei kam es vor allem in der Einrichtung in Chemnitz immer wieder zu Überbelegungen. Nun will Innenminister Markus Ulbig (CDU) das Kontingent der Flüchtlinge zu etwa gleichen Teilen auf die drei sächsischen Großstädte Chemnitz, Dresden und Leipzig aufteilen. In den Einrichtungen sollen jeweils mindestens 500 Menschen Platz finden, damit das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Asylverfahren an Ort und Stelle bearbeiten kann. Bisher war dafür in Sachsen nur Chemnitz mit der Außenstelle Schneeberg zuständig. Schneeberg soll später kein Standort mehr für die Erstaufnahme sein.

Das Konzept des sächsischen Innenministers, das er auf die Formel »Drei mal 500« bringt, stößt in seiner eigenen Landespartei auf Widerspruch. Die in Leipzig-Nord gewählte Direktkandidatin der CDU für den Bundestag, Bettina Kudla, stört sich daran, dass die Aufnahmestelle ausgerechnet in ihrem Wahlkreis angesiedelt werden soll. Sie gibt zu bedenken, dass »mögliche Alterna­tivstandorte nicht ausreichend geprüft worden« seien. Ihr Hauptargument ist die Angst um die Sicherheit der Kinder im Viertel. »Ich halte es für höchst problematisch, wenn man in einem Gebiet, das sich in den letzten Jahren als attraktiver Wohnstandort mit einem starken Zuzug von Familien mit Kindern entwickelt hat, ein Erstaufnahmelager errichtet«, empörte sich Kudla öffentlich über den geplanten Standort in ihrem Wahlkreis.

Die Stadträtin Juliane Nagel (Linkspartei) kritisierte Kudla in der Leipziger Volkszeitung scharf:
»Erst stört sie sich an dem Moscheebau in Gohlis und nun spricht sie sich gegen die Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber aus.« Die CDU-Po­litikerin schüre fremdenfeindliche Ressentiments, »die auch in der Debatte um Flüchtlinge in der Nachbarschaft immer wieder zutage treten und insbesondere in Leipzig-Schönefeld in den letzten Wochen immer wieder von Nazis aufgegriffen wurden«.

Seit Dezember demonstrieren Neonazis gegen eine temporäre Einrichtung für Asylbewerber im Stadtteil Schönefeld. Der Leipziger Kreisverband der NPD will mit diesen Aktivitäten seine eigene organisatorische Schwäche kaschieren. Nach einem jahrelangen Niedergang versucht derzeit der stellvertretende Landesvorsitzende Maik Scheffler, den maroden Verband zu retten. Im Landkreis Leipzig, in Orten wie Borna, Rötha, Frohburg, Geithain und Groitzsch, stehen zumeist NPD-Funk­tionäre hinter den »Bürgerinitiativen« gegen Unterbringungen für Asylsuchende und versuchen so, sich für die kommenden Wahlen ins Gespräch zu bringen.

Wie weit der Hass auf Flüchtlinge in der Bevölkerung verbreitet ist,
zeigt ein besonderes Beispiel elterlichen Engagements. Ein Ausflug der Leipziger Astrid-Lindgren-Schule könnte womöglich ein juristisches Nachspiel haben. Weil Lehrer und Schüler ein Flüchtlingsheim besuchten, wollen etliche Eltern, die sich in der Initiative »Leipzig steht auf« zusammengeschlossen haben, vor Gericht gehen. Eine Mutter wandte sich sogar mit einer einstweiligen Anordnung an das Verwaltungsgericht Leipzig, um die Teilnahme ihres Kindes zu unterbinden. Der Leipziger Volkszeitung zufolge gab es neun Beschwerden gegen den Besuch im Flüchtlingsheim.

Aber es geht tatsächlich auch anders. Das Patenprogramm »Ankommen in Leipzig«, das der ­Sozialbürgermeister Thomas Fabian (SPD) Mitte Februar der Öffentlichkeit vorstellte, wirbt um Freiwillige, die Förderunterricht für junge Flüchtlinge geben wollen. Das Projekt des Flüchtlingsrats Leipzig soll viele Aufgaben erfüllen, von der Hausaufgabenhilfe bis hin zur Abiturvorbereitung für Asylbewerber. Die benötigten freiwilligen Helfer werden allerdings noch dringend gesucht.

Donnerstag, 13. Februar 2014

Abteilung Attacke

Die Gewaltbereitschaft von Neonazis hat nach der Enttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zugenommen. Der Einsatz von Waffen wird dabei häufiger.

Ralf Fischer / Jungle World


»Irgendwann müssen wir kampfbereit sein und zwar, wenn der Ausländeranteil in D. über 50 Prozent steigt, beziehungsweise in den Parlamenten die Ausländerlobby unsere ureigenen deutschen Anliegen völlig ignoriert. Viel Zeit bleibt nicht, denn alleine auf die Schwatzbuden können wir uns nicht verlassen«, dekretiert ein User namens Unabomber im Forum des rechtsextremen Internetportals Altermedia. Auslöser des virtuellen Meinungsaustauschs mit der kniffligen Eingangsfrage »Sind wir bereit für den Bürgerkrieg?« war ein Pamphlet mit dem Titel »Irgendwann werden wir schießen müssen«, das beim linken Internetportal Indymedia veröffentlicht worden war. In ihrem Text ziehen die Autoren eine Bilanz des brutalen Polizeieinsatzes bei einer angemeldeten Demonstration am 21. Dezember vorigen Jahres in Hamburg. Das Fazit der Autoren des Pamphlets, in bestimmten Situationen sei ein Waffeneinsatz berechtigt, hat sich die extreme Rechte allerdings schon längst zueigen gemacht. »Vor Haus- und Hoftür habe ich griffbereit Knüppel und Äxte positioniert, um unliebsame Kulturbereicherer und anderes Pack zu vertreiben. Jedes Haus müsste jetzt schon als Festung ausgebaut werden«, beendet Unabomber auf Altermedia sein Plädoyer für den Einsatz von Waffen. Solche martialischen Drohungen müssen ernst genommen werden.

Im Jahr 2012 erreichte die Zahl der rechtsex­trem motivierten Straftaten,
bei denen es zum Einsatz von Waffen beziehungsweise zu einer Bedrohung mit Waffen kam, einen neuen Höchststand. 350 Fälle registrierte das Bundeskriminalamt, wie im Januar aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Linkspartei hervorging. Im Jahr zuvor wurden 224 Fälle registriert. Als Waffen gelten unter anderem Feuerwaffen, Spreng- und Brandvorrichtungen, Hieb- und Stichwaffen sowie Baseballschläger. Die bisherigen Erkenntnisse lassen der Bundesregierung zufolge auf ein »herausragendes Gefährdungspotential« schließen. Über Schießübungen von Neonazis liegen laut Bundesregierung ebenfalls nur wenige Details vor. Sie geht von 27 in legalen, kommerziell betriebenen Schießanlagen durchgeführten Schießübungen von Neonazis seit 1995 aus. Keine Angaben gebe es zu illegalen Wehrsportübungen im Ausland. Solche Informationen seien »allenfalls als Randerkenntnis« von Nachrichtendiensten übermittelt worden. Dabei ist es kein großes Geheimnis, dass deutsche Neonazis, beispielsweise als Legionäre, am jugoslawischen Bürgerkrieg teilnahmen.

Die starke Affinität von Rechtsextremen zu Waffen beweisen zahlreiche entsprechende Funde bei Razzien. So berichtete die Leipziger Volkszeitung vorige Woche von einer Razzia in Chemnitz, bei der die Polizei ein ganzes Waffenlager ausgehoben hatte. Eine der durchsuchten Wohnungen gehört der Zeitung zufolge einem langjährigem NPD-Mitglied, bei dem eine nicht registrierte Schusswaffe sowie eine größere Menge scharfer Munition gefunden wurden.

Martina Renner, Sprecherin der Fraktion der Linkspartei zum Thema Rechtsextremismus,
bemängelt jedoch, dass weder die Zahl bei Durchsuchungen beschlagnahmter illegaler Waffen noch die Anzahl von Neonazis, die mit Waffen oder Militaria handeln, der Großen Koalition bekannt sind. Es sei »wirklich besorgniserregend, dass die Bundesregierung zwar unzählige Dateien, Register und das Gemeinsame Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) eingeführt hat, aber nicht in der Lage ist, die wirkliche Bedrohung – die Zahl legal Waffen führender Neonazis – exakt zu beziffern«, beklagte die Abgeordnete im Gespräch mit Tagesschau.de. Nach Schätzungen der Verfassungsschutzbehörden besitzen ungefähr 400 Neonazis legal Waffen. Genauere Angaben liegen offiziell nicht vor. »Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Bundesregierung das Problem bewaffneter Neonazis immer noch nicht ernst genug nimmt«, sagte Renner.

In Berlin nahm im Jahre 2013 die Gewaltbereitschaft bei Neonazis ebenfalls zu,
vor allem die Zahl der Körperverletzungen ist gestiegen. Nach 53 Gewaltdelikten im Jahr 2012 wurden im vorigen Jahr über 70 Fälle offiziell gezählt, wie Innensenator Frank Henkel (CDU) bei einer Veranstaltung des Verfassungsschutzes über Rechtsextremismus berichtete. »Besorgniserregend ist vor allem der Anstieg bei den Körperverletzungen um 20 Fälle auf 57«, sagte Henkel. Motiv für die meisten Angriffe der Neonazis war nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes Fremdenfeindlichkeit. Vor allem Flüchtlingsunterkünfte sind in den vergangenen Monaten ins Visier der organisierten Neonaziszene geraten. Insgesamt 1 400 Menschen gehören nach derzeitigen Erkenntnissen zur rechtsextremen Szene in Berlin, knapp die Hälfte davon soll gewaltbereit sein.

Nach dem Auffliegen des NSU hätten sich »die gewalttätigen neonazistischen Überzeugungstäter taktisch noch weiter in geheime Strukturen zurückgezogen«, sagte der Politikwissenschaftler und Experte für Rechtsextremismus der Freien Universität Berlin, Hajo Funke, im Gespräch mit Tagesschau.de. Das zeigt sich auch am Beispiel des Vereinsverbots, das gegen die rechtsextreme Gruppe »Besseres Hannover« verhängt wurde. Vor 16 Monaten hatte der damalige niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU) mittels Großrazzien das Vereinsverbot durchgesetzt hatte, wurde nun bekannt, dass die Polizei ein ehemaliges Mitglied der Gruppe verdächtigt, für sieben Angriffe auf Parteibüros von SPD und CDU sowie auf einen Döner-Imbiss und eine Gedenktafel für die Synagoge verantwortlich zu sein. Die Behörden gehen Hinweisen nach, dass der Beschuldigte, Patrick K. aus Pattensen, noch acht weitere Anschläge in Hannover – sie galten Parteibüros von FDP, Grünen und DKP, Jugendorganisationen und im Sommer 2012 dem Döhrener Wahlkreisbüro der Integrationsbeauftragten Doris Schröder-Köpf (SPD) – verübt haben soll. Dabei kamen Steine zum Einsatz, ein anderes Mal wurden Parolen geschmiert, gegen die FDP-Zentrale flog ein Brandsatz. Die Polizei beschlagnahmte bei der Durchsuchung zweier Wohnungen des Beschuldigten eine Stahlschleuder, eine Softair-Waffe mit Munition und diverse Glaskugeln.

In Schwerin griffen Unbekannte vor knapp zwei Wochen eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 69. Jahrestags der Befreiung des KZ Auschwitz im multikulturellen Begegnungszentrum »Buntes Q« an. Mit Steinen bewarfen sie die Fassade und zerstörten dabei zwei Fensterscheiben. Unerkannt konnten die Täter über den Hinterhof des Gebäudes flüchten. Die Betreiber gehen davon aus, dass die Angreifer aus der rechtsextremen Szene kommen. Nicht wenige organisierte Neonazis agieren im Untergrund weitaus gefährlicher und vor allem gewalttätiger. Das Ideal des Einzelkämpfers aus vergangenen Tagen hat viele Anhänger in rechtsextremen Kreisen. »Wenn man ernsthaft etwas starten will, so sollte man dies alleine tun und niemandem, wirklich niemandem (!!!) davon erzählen. Ein einzelner Mensch kann aus der Tiefe des Raumes mit einem Scharfschützengewehr im Anschlag (am besten mit Standbein) mehr Angst unter den Roten verbreiten als jede Scheißdemo, wo ein paar Flaschen geworfen werden«, beschreibt ein User seine gut durchdachten Gewaltphantasien auf Altermedia.