Donnerstag, 16. Januar 2014

Deutschland sucht die Todesopfer

In Anbetracht der Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds werden Tausende Morde und Tötungsdelikte erneut auf rechtsextreme Motive untersucht. Dass die offiziellen Statistiken falsch sind, wurde bereits vor zwölf Jahren in einem Bericht des Bundesinnen- und Bundesjustizministeriums festgestellt – ohne Konsequenzen, wie das Beispiel Brandenburg zeigt.

Ralf Fischer / Jungle World

Zumindest im Nachhinein wollte die Bundesregierung Gründlichkeit statt Nachlässigkeit walten lassen: Eine Konsequenz aus dem desaströsen Vorgehen der deutschen Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit der Ermordung von zehn Personen durch den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) sollte die Überprüfung von mehr als 3 300 Morden, Tötungsdelikten und Tötungsversuchen zwischen 1990 und 2011 auf ein mögliches rechtsextremes Tatmotiv sein. Doch zumindest in zwei Ministerien war schon längst bekannt, dass die bisherige Praxis bei der Erstellung der »Opferstatistiken im Bereich der rechten und fremdenfeindlichen Gewalttaten« ungenügend war. Bereits vor zwölf Jahren bemängelten die Autoren des ersten »periodischen Sicherheitsberichts« (PSB), der gemeinsam vom Bundesjustizministerium und vom Bundesinnenministerium herausgegeben wurde, dass weder »in der wissenschaftlichen Forschung und Analyse, noch in der Arbeit der Polizei und Justiz, noch in den Interventionsstrategien und Gegenmaßnahmen von Politik und Bildung die Opfer rechter Gewalt bislang hinreichend berücksichtigt« würden.

Offensichtlich wurde die Vernachlässigung der Opfer
dank der umfassenden Recherche von Journalisten. Diese hatten im September 2000 eine Liste mit Todesopfern rechtsextremer Gewalt veröffentlicht. Im Gegensatz zur Polizei ermittelten sie für den Zeitraum von 1990 bis Juli 2000 mindestens 93 Fälle, in denen die Täter aus rechtsextremen Motiven gehandelt hatten. Die offizielle Statistik hatte dagegen bis dahin nur 25 Fälle ausgewiesen. Die Autoren des PSB folgerten, dass »eine systematische und kontinuierlich geführte polizeiliche Statistik zu Todesopfern als Folge rechter Gewalttaten bis dato nicht« existiere. Ihrer Empfehlung, die strikte Anwendung der bisherigen polizeilichen Kriterien zu ändern, weil diese »Einordnungspraxis systematisch verschiedene Opfergruppen und Delikttypen« ausblende, wurde nur in geringem Maße befolgt. Viele Tote, die die Autoren als »Typen von Opfern rechter und fremdenfeindlicher Gewalt, die bisher in den offiziellen Statistiken nicht erfasst sind«, identifizierten, werden immer noch nicht offiziell anerkannt. »Aufgrund des fehlenden Merkmals der Systemüberwindung« fielen die Taten durch das polizeiliche Raster.

»Auch bei Punks und Angehörigen linker Milieus handelt es sich um Personen aus typischen Feindgruppen des Rechtsextremismus und der Skinheadszene«, betonten deshalb die Autoren des Sicherheitsberichts. Die Liste weiterer potentieller Feindgruppen enthält mit Obdachlosen, Sozialhilfeempfängern, Ausländern und Homosexuellen keine Überraschungen, die Notwendigkeit, sie für die Landeskriminalämter noch einmal aufzuschreiben, war offensichtlich trotzdem gegeben. Die damalige Praxis der Einordnung von Straftaten und Opfern in die Statistiken des Staatsschutzes war aus Sicht der Autoren zu res­triktiv, »weil sie am Extremismusbegriff ausgerichtet war und für die Berücksichtigung rassistischer und sozialdarwinistischer Elemente keinen Raum ließ«. Ihre Einschätzung, dass es sich »bei Angriffen auf die Menschenwürde um ein Staatsschutzdelikt handelt, auch wenn keine systemüberwindende Absicht erkennbar ist«, fand wenig Gehör. Im Zuge der Auseinandersetzung erhöhte die Bundesregierung die Zahl anerkannter Opfer rechtsextremer Gewalttaten geringfügig, der Rest verschwand vor zwölf Jahren in den Akten.

Im Land Brandenburg wurde im vergangenen Jahr das Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam mit der Überprüfung umstrittener Altfälle von »Opfern rechtsextremer und rassistischer Gewalt« beauftragt. Unterstützend tätig ist ein regelmäßig tagender Arbeitskreis, der aus Vertretern staatlicher Institutionen und öffentlicher Initiativen zusammengesetzt ist. Das Zentrum soll die Fälle ermitteln und entsprechend dokumentieren sowie die Entwicklung eines differenzierten »Klassifizierungsschemas« einleiten. Das dürfte viel Zeit in Anspruch nehmen. Brandenburg belegt regelmäßig einen Spitzenplatz unter den Bundesländern, in denen die meisten rechtsextremen Gewalttaten gezählt werden. Darüber hinaus ist es auch das Bundesland, in dem die größte Zahl an Todesopfern rechtsextremer Gewalt zu finden ist. Der Verein Opferperspektive dokumentiert auf seiner Website insgesamt »28 Todesopfer rechter Gewalt und vier Fälle, bei denen der Verdacht besteht, dass es sich um eine politisch rechts motivierte Tat handelt«.

Die brandenburgische Landesregierung geht bisher von neun Todesopfern aus.
In der offiziellen Statistik taucht zum Beispiel der Tod von Falko Lüdtke nicht auf. Der Punk traf am 31. Mai 2000 an einer Bushaltestelle in Eberswalde auf Mike Bäther, der der rechtsextremen Szene angehörte und der deutlich erkennbar eine acht Zentimeter große Tätowierung eines Hakenkreuzes auf dem Hinterkopf trug. Lüdtke stellte ihn deshalb zur Rede, gemeinsam stiegen sie in den Bus ein, wo die verbale Auseinandersetzung weiterging. An der Haltestelle Spechthausener Straße verließen beide den Bus. Bäther forderte Lüdtke mehrfach auf, mit ihm mitzukommen, um gemeinsam ein Bier zu trinken. Lüdtke lehnte ab. Daraufhin schubste und schlug Bäther den Punk, dieser verteidigte sich. Während des Handgemenges bewegten sich beide auf die Straße zu. Bäther versetzte dem mit dem Rücken zur Fahrbahn stehenden Lüdtke schließlich einen gezielten Schlag auf den Brustkorb, woraufhin dieser sein Gleichgewicht verlor und auf die Straße taumelte, wo er von einem Taxi erfasst wurde. Lüdtke starb noch am selben Abend an seinen Verletzungen.
Bäther gab bei der polizeilichen Erstvernehmung zwar den Stoß auf die Straße zu, bestritt aber jegliche politische Dimension des Handgemenges. Im Gerichtsverfahren machte er keinerlei Aussagen. Das Landgericht Frankfurt (Oder) verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Das Gericht stellte fest: »Mit dem Tragen eines solchen, durch die Tätowierung immer präsenten Symbols auf einem den Blicken ausgesetzten Körperteil wird eine Gesinnung zur Schau getragen.« Das spätere Opfer habe den Täter nicht provoziert, so das Gericht, bei Lüdtkes Verhalten habe es sich um einen Akt der Zivilcourage gehandelt. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil im Juni 2001 auf. Er wertete die Tat nur als fahrlässige Tötung, da Bäther Lüdtkes Tod ohne Vorsatz herbeigeführt habe. Seine rechtsextreme Gesinnung sei zwar die Ursache der Tat gewesen, strafverschärfend wollten die Richter das aber nicht werten. Das Landgericht Cottbus verringerte daraufhin das Strafmaß auf ein Jahr und acht Monate Haft ohne Bewährung.

Ein von der Öffentlichkeit weitgehend ignorierter
und ebenfalls offiziell nicht anerkannter Fall ist der Tod von Horst Hennersdorf. Im Juni 1993 folterten zwei Naziskinheads den 37jährigen Obdachlosen auf einem Anwesen in Fürstenwalde stundenlang zu Tode. Sie blieben dabei nicht unbeobachtet. Mehrere Zeugen sahen den bestialischen Gewaltausbruch, ohne etwas zu unternehmen. Wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge verurteilte das Landgericht Frankfurt (Oder) einen Täter zu fünf, den anderen zu acht Jahren Freiheitsstrafe. Für das Gericht waren die beiden Skinheads zwar eindeutig der rechtsextremen Szene zuzuordnen, es konnte jedoch kein Motiv für die Tötung erkennen. Einem Psychiater sagte einer der Täter, Hennersdorf habe auf ihn den Eindruck »eines niedrigen Menschen, eines dreckigen Penners« gemacht. Über das Opfer ist kaum etwas bekannt, auch die genauen Tatumstände liegen weiterhin im Dunkeln. Es gibt viel zu tun für das Moses-Mendelssohn-Zentrum.

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