Donnerstag, 30. Januar 2014

Anklage bleibt Anklage

Die juristische und politische Aufarbeitung der Mordserie des NSU bleibt fragwürdig. Die Ermittlungsbehörden weigern sich, weiterführenden Anhaltspunkten nachzugehen.

Ralf Fischer / Jungle World


Die Unterstützung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung sowie die Werbung neuer Mitglieder und Unterstützer stehen unter Strafe. In den siebziger Jahren führte dies zu den skurrilsten Situationen. 1972 durchsuchten Polizisten die Wohngemeinschaft, in der Peer Steinbrück (SPD) zu diesem Zeitpunkt lebte. Steinbrück blieb noch einige Zeit lang unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, obwohl es keinen einzigen konkreten Hinweis darauf gab, dass er die Absicht hatte, die »freiheitliche demokratische Grundordnung« abzuschaffen. Auslöser für die Hausdurchsuchung in Steinsbrücks WG war damals die Vermutung von Nachbarn, eine Frau aus der RAF verstecke sich nebenan.

40 Jahre später verhält es sich anders.
Die Strafverfolgungsbehörden gehen nachsichtig mit manchen Personen um, die im Verdacht stehen, die bürgerlich-demokratische Ordnung der Bundesrepublik abschaffen zu wollen. So wurde Ende 2013 bekannt, dass Holger Gerlach, mutmaßlicher Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), Mitangeklagter im NSU-Prozess und im Zeugenschutzprogramm des Bundeskriminalamts (BKA) untergebracht, sich nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft im Mai 2012 mit Personen aus der Naziszene in Niedersachsen treffen konnte, die ebenfalls als Zeugen im NSU-Verfahren aussagen müssen. »Ein Treffen einer im Zeugenschutz befindlichen Person mit Zeugen, hier ja sogar Belastungszeugen, widerspricht allen Regeln des Zeugenschutzes, die der Zeuge normalerweise auch unterschreiben muss«, empörte sich der Kieler Rechtsanwalt Alexander Hoffmann, der als Nebenkläger die Opfer des mutmaßlichen NSU-Bombenanschlags von 2004 in Köln vertritt. Die Gerlach begleitenden Beamten waren während des Gespräches nicht einmal im Raum. »Der Vorgang ist wegen der potentiellen Beeinflussung der Zeugen und der damit verbundenen Verdunklungsgefahr erklärungsbedürftig«, stellte der Bundestagsabgeordnete Sven Kindler (Grüne) fest und bat die Bundesregierung um eine Stellungnahme. Diese antwortete, dass Gerlach sich treffen könne, mit wem er wolle, es gebe »kein prozessuales Kontaktverbot von auf freiem Fuß befindlichen Zeugen«.

Bei den beiden Zeugen, mit denen sich Gerlach traf, handelt es sich um das Ehepaar Alexander und Silvia S. Sie wurden Anfang Januar im Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht wegen Gerlachs Beschaffung einer Krankenversicherungskarte für Beate Zschäpe befragt, wegen einer Handlung also, die in diesem Fall auch als Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gelten könnte. Während der Befragung verstrickten sich die Zeugen in Widersprüche. Alexander S. konnte sich angeblich kaum noch an Details erinnern. Es sei ein »feucht-fröhlicher Abend« gewesen, an dem Gerlach seine Frau gefragt habe, ob sie ihre Versicherungskarte verkaufen würde. »Meine Frau hat dem zugestimmt und wir haben 300 Euro dafür erhalten.« Alexander S. sagte, es habe ihn nicht interessiert, was genau mit der Karte geschehe. Auch an den Ort des »feucht-fröhlichen Abends« konnte oder wollte er sich nicht erinnern. Gerlach gab an, dass er Silvia S. die Karte habe »abquatschen« und ihr schwören müssen, dass damit »kein Scheiß« geschehe.

Erinnerungslücken ganz anderer Art hat der Polizist Martin Arnold.
Im April 2007 schossen zwei Personen auf einem gut einsehbaren Parkplatz in Heilbronn auf ihn und seine Kollegin Michèle Kiesewetter. Die 22jährige Kiesewetter starb, Arnold überlebte nur mit großem Glück und kann sich bis heute nicht an den Tathergang erinnern. Immer noch ist unbekannt, wer die Schüsse abgab. Zwar wurden die Waffen und Teile der zugehörigen Ausrüstung der Polizisten im Wohnmobil, in dem Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tot entdeckt wurden, und in der ausgebrannten Wohnung in Zwickau, in der das NSU-Trio wohnte, gefunden.

Trotzdem bleiben viele Fragen ungeklärt. Obwohl die Polizei anhand von Aussagen in Heilbronn mehrere Phantombilder anfertigen ließ, ähnelt keine der Zeichnungen Böhnhardt oder Mundlos. Ein Zeuge gab an, drei Verdächtige gesehen zu haben, zwei Männer und eine Frau mit weißem Kopftuch. Das Landeskriminalamt mutmaßte aufgrund dieser und weiterer Aussagen, dass an der Tat insgesamt sechs Personen beteiligt gewesen sein könnten. Die Aussage des schwer geschädigten Arnold im Prozess Mitte Januar ergab keine neuen Erkenntnisse. Für Arnolds Anwalt Walter Martinek war dies ein weiterer Grund, einen NSU-Untersuchungsausschuss für Baden-Württemberg zu fordern, denn weder seien die genauen Hintergründe der Tat bekannt, noch habe es eine Diskussion über die Ermittlungsfehler gegeben. »Wenn es irgendwo einen Bedarf für einen Untersuchungsausschuss gibt, dann in Baden-Württemberg«, sagte Martinek den Stuttgarter Nachrichten.

Vor allem die Rolle des Verfassungschutzes sowie der anderen Sicherheitsbehörden im Heilbronner Fall wurde bislang nicht ansatzweise politisch aufgearbeitet. Unaufgeklärt ist bisher auch ein weiteres Detail: Kiesewetters Patenonkel, ein Polizist aus Saalfeld in Thüringen, soll in einer Befragung acht Tage nach dem Mord an seiner Nichte die Vermutung geäußert haben, dass ein Zusammenhang zu der damals noch als »Türkenmorde« bezeichneten Mordserie bestehe. Der Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags wolle den Polizisten deshalb im März vorladen, sagte die Ausschussvorsitzende Dorothea Marx (SPD) vorige Woche. Die angekündigte juristische und politische Aufarbeitung der NSU-Mordserie bleibt insgesamt fragwürdig. Die Bundesanwaltschaft lehnte in diesem Monat einen Antrag des Anwalts der Nebenkläger, Alexander Hoffmann, ab, der einen in Polen inhaftierten Zeugen laden wollte. Dessen Angaben zum Angeklagten Ralf Wohlleben sollen über die in der Anklage geäußerten Vorwürfe der Unterstützung des NSU hinausgehen. Die Bundesanwaltschaft begründete die Ablehnung damit, dass diese Zeugenaussage unzulässig und ungeeignet zur Klärung der Frage sei, ob Zschäpe Mittäterin gewesen sei oder sich nur der Beihilfe an zehn Morden und 15 Raubüberfällen schuldig gemacht habe. Hoffmann wirft deshalb der Bundesanwaltschaft vor, eine weitere Aufklärung der NSU-Verbrechen zu verhindern. Sie sei »nur bemüht, ihre einmal formulierte Anklage zu halten«. Dieser Strategie folgt offenbar auch der Staatsanwalt Stefan Schmidt. Auch er lässt allgemein den Eindruck aufkommen, dass eine harte Strafe Zschäpes im Interesse des Staats ist, aber nicht unbedingt die Verurteilung weiterer Unterstützer.

Diese offensichtliche Weigerung der Ermittlungsbehörden,
weiterführenden Anhaltspunkten nachzugehen, steigert die Textproduktion eines Milieus, von dem ebenfalls keine Aufklärung zu erwarten ist: Auch Verschwörungstheoretiker und -praktiker basteln an ihren Versionen zum NSU. So sagte Nick Greger kürzlich dem Magazin Compact, das Berliner Landeskriminalamt habe ihn bedrängt, keine Aussagen vor dem NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag zu machen. Greger, ehemals militanter Nazi, behauptet, V-Mann des Berliner LKA gewesen zu sein. Fraglich ist, wie glaubwürdig dieser Zeuge ist. Nach seinem Ausstieg aus der Naziszene 2005 baute Greger Kontakte zu einem nordirischen protestantischen Milizenführer auf und konvertierte später zur russisch-orthodoxen Kirche. Katharina König (Linkspartei) sagt darüber hinaus, dass Greger keinen Hehl aus seinen Verbindungen zur Gruppierung »Königreich Deutschland« mache.

Donnerstag, 23. Januar 2014

Sie können auch anders

In mehreren Städten und Ortschaften ­haben Gegner von Flüchtlingsheimen auch ihre gewalttätige Seite gezeigt.

Ralf Fischer / Jungle World


Mit Deutschland-Flaggen ausgestattet, versperren sie symbolisch den Eingang der Flüchtlingsunterkunft im Berliner Ortsteil Hellersdorf. Einige Kameraden posieren mit den zwei Flaggen, andere müssen die Fotos gemacht haben. Diese sind für die Propaganda in den sozialen Netzwerken gedacht. Dort ist die Resonanz auf die »Nein zum Heim«-Kampagne größer als auf der Straße. Einmal auf den Gefällt-mir-Button zu drücken, ist mit weniger persönlichem Risiko behaftet, als auf der Straße zu demonstrieren. Nacht- und Nebelaktionen bieten einen ähnlichen Schutz vor un­erwünschter Öffentlichkeit.

In Hellersdorf entwickeln die organisierten Flüchtlingsfeinde einen neuen nächtlichen und manchmal auch gewaltsamen Aktionismus. In der Silvesternacht brachten sie gezielt Böller zur Detonation, die an die Glasscheiben im Eingangsbereich zweier Gebäude angeklebt worden waren. Die Scheiben zerbarsten, Menschen wurden nicht verletzt. Für einen Sachschaden im vierstelligen Eurobereich hatte in der Nacht zuvor eine starke Explosion in den Räumlichkeiten des Bündnisses »Hellersdorf Hilft« gesorgt. Die Initiative wurde vermutlich zum Ziel des Angriffs, weil sie die Koordination von Hilfsangeboten und Spenden für die Flüchtlinge übernommen hat.

Weniger gewaltsam, aber dennoch deutlich
richteten sich Gegner des Flüchtlingsheims gegen den Sozialsenator von Berlin, Mario Czaja (CDU). Vor seinem Wahlkreisbüro in Mahlsdorf befestigten Unbekannte in der vergangenen Woche ein schwarzes Banner mit der Aufschrift »Nein zum Heim«. Noch am selben Abend verbreitete die »Bürgerbewegung Hellersdorf« ein Bild von der Aktion im Internet und kommentierte in drohendem Ton: »Er ist der Hauptverantwortliche für das Asyldesaster in ganz Berlin! Wer mit ehemaligen SED-Kadern Hand in Hand Politik gegen das deutsche Volk betreibt, muss in der Öffentlichkeit zur Rede gestellt werden!«

Am Wochenende wurde dann ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes vor einem der Heimgebäude in Hellersdorf auf rassistische Weise beleidigt. Eine Gruppe von etwa zehn Personen posierte vor der Einrichtung, um offenbar ein Musikvideo zu drehen. Als ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes sie aufforderte, das Grundstück zu verlassen, wurde er aus der Gruppe heraus beschimpft. Alarmierte Polizisten stellten die Amateurfilmer, nach Angaben der Polizei gehören mindestens zwei Männer der »rechten Szene« an. Öffentlich bekannt ist der Rapper Villain051, um dessen Videodreh es sich handelte. In seinem Song »Deutsch und stolz« rappt er: »Deutscher Stolz, das ist Villain051, Wichser, ich bin ein böser Nazi, wollen sie den Kids eintrichtern. Ich gebe niemals auf, ich lebe diesen Traum. Freie Menschen, freie Länder, jedem Volk den ­eigenen Raum.«

Auch andernorts geht es keineswegs ruhig zu. Im bayerischen Germering bei München brannte Anfang Januar ein Gebäude, in dem auch Flüchtlinge untergebracht waren. In dem Komplex lebten insgesamt 60 Personen. Es wurde niemand verletzt, ein Bewohner entdeckte das Feuer rechtzeitig und alarmierte seine Mitbewohner, die in den hinteren Räumen des Gebäudes schliefen. Der vordere Teil, wo sich die Büros der Heimleitung befanden, wurde zerstört. Ein technischer Defekt wird ausgeschlossen. Zwei Zeugen haben unabhängig voneinander angegeben, einen Mann im Alter von etwa 30 Jahren gesehen zu haben, der sich an dem Gebäude zu schaffen gemacht habe. Medienberichten zufolge gab es in Germering bisher keine rassistischen Proteste, die von der Caritas betriebene Flüchtlingsunterkunft besteht bereits seit 1993.
Im hessischen Wohratal verschafften sich in der vorigen Woche vier junge Männer gewaltsam Zutritt zum örtlichen Flüchtlingsheim. Nachdem sie fast alle Jalousien des Erdgeschosses beschädigt hatten, drangen sie ins Gebäude ein, wo sie Türen beschädigten. Die Täter flüchteten, ohne die Bewohner anzugreifen, hinterließen aber einen Sachschaden von mehreren tausend Euro. Eine schwangere Frau wurde angesichts ihrer Angstzustände vorsorglich zur Untersuchung ins Krankenhaus eingeliefert. Die vier Männer wurden mittlerweile von der Polizei ausfindig gemacht.

Ein etwas anders gelagerter Fall ereignete sich im Kreis Hildesheim.
Dort stürmten acht Männer Anfang Januar die Wohnung einer Roma-Familie. Nachdem sie lautstark an die Tür geklopft hatten, öffnete der Familienvater. Einer der Männer schlug ihm daraufhin mit der Faust, in der er eine Pistole hielt, ins Gesicht. Dann forderten die Eindringlinge Geld. Völlig eingeschüchtert übergab der Familienvater ihnen 1 300 Euro. Was zunächst wie ein gewöhnlicher Raubüberfall wirkt, könnte durchaus einen anderen Hintergrund haben. Aussagen der Familie zufolge trugen einige Angreifer Springerstiefel und kurz geschorene Haare. »Nach der äußeren Beschreibung der ­Täter und dem Eindruck der Familie ist davon auszugehen, dass es sich um Neonazis handelte«, sagte Sigmar Walbrecht vom niedersächsischen Flüchtlingsrat dem Neuen Deutschland.

Während dieser Angriff noch ungeklärt ist, konnte die Polizei in Brandenburg im Fall eines rassistisch motivierten Angriffs einen Erfolg vermelden. Ein 20jähriger gestand die Attacke auf eine zukünftige Flüchtlingsunterkunft in Premnitz. Gemeinsam mit einem 17jährigen Komplizen soll er an der verschlossenen Eingangstür des leerstehenden Gebäudes einen Brand gelegt haben. Der Helfer bestreitet aber die Vorwürfe. Beide wurden nach den Vernehmungen mangels Haftgründen wieder entlassen. Weil er damals Naziparolen gerufen haben soll, wurde gegen den geständigen jungen Mann bereits vor einigen Jahren ermittelt. Das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft Potsdam eingestellt.

Donnerstag, 16. Januar 2014

Dortmund ist Nazi

Das Simon Wiesenthal Center veröffentlichte auch für das Jahr 2013 seine Rangliste der weltweit schlimmsten Antisemiten. Auf Platz 10 rangieren die europäischen Sportstätten – der deutsche Fußball wird in den Beispielen nicht genannt.

Ralf Fischer / Jungle World

Anhand von einigen Beispielen illustriert das Simon Wiesenthal Center (SWC) die rassistischen und antisemitischen Hassgesänge und Übergriffe in den unterschiedlichsten europäischen Sportarten und Sportstätten. Außer einer Hakenkreuz-Choreographie während eines Eishockeyspiels in Lettland kommen alle weiteren Beispiele aus dem Bereich Fußball: Als die israelische Nationalmannschaft im August in Ungarn spielte, riefen die ungarischen Fans in Sprechchören »dreckige Juden«, »Buchenwald« und »Viva Mussolini«. Ein Redakteur des ungarischen Privatsenders ATV stellte dazu fest, die antisemitischen Ausfälle seien nicht nur von wenigen »Verrückten« ausgegangen, sondern vom »ganzen Haufen« der Anhänger des ungarischen Teams. Ein weiterer Fall betrifft den ehemaligen Bundesligaspieler Josip Šimunić aus Kroatien. Nach dem Erfolg im WM-Qualifikationsspiel gegen Island im November vorigen Jahres griff der 35jährige Profispieler zum Mikrophon und brüllte: »Za Dom!«, woraufhin ein Teil der Zuschauer mit »Spremni!« antwortete. »Für die Heimat« – »Bereit!«, so die Übersetzung, war während des Zweiten Weltkrieges der offizielle Gruß des faschistischen Regimes Kroatiens. Šimunić wurde von der FIFA für zehn Spiele gesperrt.

Leider weist die Aufzählung der antisemitischen Vorfälle für das Jahr 2013 des Simon Wiesenthal Centers Fehler auf. Die antisemitisch motivierten Angriffe auf die Fans der Tottenham Hotspurs während eines Auswärtsspiels in Rom ereigneten sich im Jahre 2012. Unverständlich ist außerdem, wieso sich kein einziges Vorkommnis aus Deutschland in der Liste findet, obwohl der Chronik »Diskriminierung im deutschen Fußball 2013« von »Fußball gegen Nazis« zufolge gerade antisemitische Attacken im vergangenen Jahr »eine besorgniserregend hohe Stellung« einnahmen. Die 2013 ausgestrahlte ARD-Dokumentation »Antisemitismus heute. Wie judenfeindlich ist Deutschland?« beginnt mit einem wackligen Videoausschnitt des Regionalligaspiels Eintracht Frankfurt Amateure gegen Kickers Offenbach. Darin zu sehen und vor allem zu hören ist, dass beinahe der ganze Offenbacher Auswärtsblock »Judenschweine« in Richtung der Eintracht-Fans ruft und mehrfach die Parole »Zyklon B für die SGE« intoniert. »Die größten Hassgegner eines Vereins werden mit ›Jude‹ begrüßt, also als das schlimmste erdenkliche Schimpfwort, das denen einfällt für ihren Erzfeind«, erklärte Felix Benneckenstein, der ehemalige rechte Liedermacher und Fan von 1860 München, in der Dokumentation.

Im Fußballalltag bleibt es jedoch nicht bei Beleidigungen, antisemitische Beschimpfungen gehen häufig mit physischer Gewalt einher. Im September wurden die Mitglieder der antirassistischen »Ultras Braunschweig« in Mönchengladbach aus dem Auswärtsblock geprügelt. Die Angreifer, ebenfalls Fans von Braunschweig, beschimpften ihre Opfer als »Antifahure« und »Judenfotze«. Die Reaktion des Vereins verblüfft: Er verhängte ein Stadionverbot gegen die angegriffenen Ultras.

Im Anschluss an das Oberligaspiel zwischen dem VfL Halle 96 und den Amateuren des Halleschen FC griff im selben Monat ein gutes Dutzend Schläger aus dem Umfeld der »Saalefront Ultras« abreisende Fans des VfL an, die vorher als »Juden« beziehungsweise »scheiß Zecken« bezeichnet wurden. Ein Jugendlicher musste mit Brüchen im Gesicht ins Krankenhaus. Und in Aachen griffen im November 15 Hooligans mit Knüppeln und Flaschen eine Solidaritätsdemonstration für Flüchtlinge an. Den Angegriffenen zufolge bezeichneten die Hooligans sie als »Juden« und »Judenschweine« (Jungle World 47/13).

Die Täter sind vernetzt: Organisierte Neonazis und Hooligans aus ganz Deutschland sollen sich Spiegel Online zufolge Anfang 2012 zusammengefunden und unter dem Motto »Kameraden im Geiste. Viele Farben, dennoch eine Einheit« ein bundesweites Bündnis mit dem Namen »GnuHonnters« (»New Hunters«) geschlossen haben. Eingeladen zum ersten Treffen hatte die altbekannte »Borussenfront«, deren Anführer, Siegfried »SS-Siggi« Borchardt, gleichzeitig auch Vorsitzender des Dortmunder Kreisverbandes der Partei »Die Rechte« ist. In ihrem Manifest sagen die »GnuHonnters« den antirassistischen Ultras in Deutschland den Kampf an: Ziele sind die »Herstellung alter Werte«, »Keine Antifa im Stadion« und »Meinungsfreiheit zurückgewinnen«. Womit nichts anderes gemeint ist als die Verdrängung explizit nicht-rechter Fangruppen aus den Kurven, letztlich also die Wiederherstellung der weitgehend verlorenen Vormacht rechter Hooligans im Stadion.

Anfang 2013 wurden zwei Mitarbeiter des BVB-Fanprojektes beim Auswärtsspiel in Donezk brutal attackiert. Die Angreifer schrien während der Prügelorgie: »Dortmund bleibt rechts« und »Dortmund ist Nazi«. Die Taktik ist so einfach wie erfolgreich, Bedrohungsszenarien sollen kritische Fans langfristig vertreiben. In Offenbach ist dies bereits gelungen, dort haben rechte Anhänger das Gewaltmonopol in der Kurve inne, weil neben dem Verein auch viele gemäßigte Fans stillhalten. In Aachen, Rostock und Dresden zogen sich – nach heftigen Angriffen – antirassistische Ultragruppen aus den Kurven zurück. In Essen verhinderten rechte Hooligans mittels der Androhung von Gewalt eine Vorführung des Dokumentarfilmes »Blut muss fließen« über die Rechtsrock-Szene. Und in Duisburg wurden die linken Ultras erst Ende Oktober 2013 Opfer eines Angriffes rechter MSV-Anhänger.

Weil Medien bei unterklassigen Spielen kaum präsent sind, bleibt unklar, wie viele Vorfälle sich in den Niederungen des Amateurfußballs ereignen. Erst die Präsenz antirassistischer Ultragruppen ermöglicht die Erfassung antisemitischer, rassistischer und homophober Vorfälle, wie zwei Beispiele aus Niedersachsen zeigen. Beim Spiel gegen die Amateure von Hannover 96 im Oktober staunten die Ultras vom VfB Oldenburg darüber, dass die gegnerischen Fans mit einer Hamas-Fahne posierten. »Den scheinbaren Wortwitz aus ›H’annover ›AMA’teure’S‹ haben wir ja verstanden, aber wir fragen uns, ob dieser es wert sein kann, sich selbst in die Nähe einer antisemitischen, radikal-islamistischen Terrororganisation zu rücken«, schrieben die Oldenburger Ultras daraufhin in ihrem Blog. Einen Monat später mussten Goslarer Ultras die Verbalinjurien von Havelser Fans über sich ergehen lassen: »Als die Gästefans an unserem Block vorbeikamen, suchten sie ohne zu zögern die Konfrontation und beleidigten uns unter anderem als ›Antifafotzen‹, ›scheiß Juden‹, ›scheiß Schwuchteln‹ und versuchten das Ganze schließlich mit der Aussage ›Wir sind keine Rassisten, ihr scheiß Zigeuner‹ zu relativieren.« Beide Vorfälle werden weder in der lokalen Presse noch in den Chroniken antirassistischer Organisationen erwähnt.

Deutschland sucht die Todesopfer

In Anbetracht der Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds werden Tausende Morde und Tötungsdelikte erneut auf rechtsextreme Motive untersucht. Dass die offiziellen Statistiken falsch sind, wurde bereits vor zwölf Jahren in einem Bericht des Bundesinnen- und Bundesjustizministeriums festgestellt – ohne Konsequenzen, wie das Beispiel Brandenburg zeigt.

Ralf Fischer / Jungle World

Zumindest im Nachhinein wollte die Bundesregierung Gründlichkeit statt Nachlässigkeit walten lassen: Eine Konsequenz aus dem desaströsen Vorgehen der deutschen Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit der Ermordung von zehn Personen durch den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) sollte die Überprüfung von mehr als 3 300 Morden, Tötungsdelikten und Tötungsversuchen zwischen 1990 und 2011 auf ein mögliches rechtsextremes Tatmotiv sein. Doch zumindest in zwei Ministerien war schon längst bekannt, dass die bisherige Praxis bei der Erstellung der »Opferstatistiken im Bereich der rechten und fremdenfeindlichen Gewalttaten« ungenügend war. Bereits vor zwölf Jahren bemängelten die Autoren des ersten »periodischen Sicherheitsberichts« (PSB), der gemeinsam vom Bundesjustizministerium und vom Bundesinnenministerium herausgegeben wurde, dass weder »in der wissenschaftlichen Forschung und Analyse, noch in der Arbeit der Polizei und Justiz, noch in den Interventionsstrategien und Gegenmaßnahmen von Politik und Bildung die Opfer rechter Gewalt bislang hinreichend berücksichtigt« würden.

Offensichtlich wurde die Vernachlässigung der Opfer
dank der umfassenden Recherche von Journalisten. Diese hatten im September 2000 eine Liste mit Todesopfern rechtsextremer Gewalt veröffentlicht. Im Gegensatz zur Polizei ermittelten sie für den Zeitraum von 1990 bis Juli 2000 mindestens 93 Fälle, in denen die Täter aus rechtsextremen Motiven gehandelt hatten. Die offizielle Statistik hatte dagegen bis dahin nur 25 Fälle ausgewiesen. Die Autoren des PSB folgerten, dass »eine systematische und kontinuierlich geführte polizeiliche Statistik zu Todesopfern als Folge rechter Gewalttaten bis dato nicht« existiere. Ihrer Empfehlung, die strikte Anwendung der bisherigen polizeilichen Kriterien zu ändern, weil diese »Einordnungspraxis systematisch verschiedene Opfergruppen und Delikttypen« ausblende, wurde nur in geringem Maße befolgt. Viele Tote, die die Autoren als »Typen von Opfern rechter und fremdenfeindlicher Gewalt, die bisher in den offiziellen Statistiken nicht erfasst sind«, identifizierten, werden immer noch nicht offiziell anerkannt. »Aufgrund des fehlenden Merkmals der Systemüberwindung« fielen die Taten durch das polizeiliche Raster.

»Auch bei Punks und Angehörigen linker Milieus handelt es sich um Personen aus typischen Feindgruppen des Rechtsextremismus und der Skinheadszene«, betonten deshalb die Autoren des Sicherheitsberichts. Die Liste weiterer potentieller Feindgruppen enthält mit Obdachlosen, Sozialhilfeempfängern, Ausländern und Homosexuellen keine Überraschungen, die Notwendigkeit, sie für die Landeskriminalämter noch einmal aufzuschreiben, war offensichtlich trotzdem gegeben. Die damalige Praxis der Einordnung von Straftaten und Opfern in die Statistiken des Staatsschutzes war aus Sicht der Autoren zu res­triktiv, »weil sie am Extremismusbegriff ausgerichtet war und für die Berücksichtigung rassistischer und sozialdarwinistischer Elemente keinen Raum ließ«. Ihre Einschätzung, dass es sich »bei Angriffen auf die Menschenwürde um ein Staatsschutzdelikt handelt, auch wenn keine systemüberwindende Absicht erkennbar ist«, fand wenig Gehör. Im Zuge der Auseinandersetzung erhöhte die Bundesregierung die Zahl anerkannter Opfer rechtsextremer Gewalttaten geringfügig, der Rest verschwand vor zwölf Jahren in den Akten.

Im Land Brandenburg wurde im vergangenen Jahr das Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam mit der Überprüfung umstrittener Altfälle von »Opfern rechtsextremer und rassistischer Gewalt« beauftragt. Unterstützend tätig ist ein regelmäßig tagender Arbeitskreis, der aus Vertretern staatlicher Institutionen und öffentlicher Initiativen zusammengesetzt ist. Das Zentrum soll die Fälle ermitteln und entsprechend dokumentieren sowie die Entwicklung eines differenzierten »Klassifizierungsschemas« einleiten. Das dürfte viel Zeit in Anspruch nehmen. Brandenburg belegt regelmäßig einen Spitzenplatz unter den Bundesländern, in denen die meisten rechtsextremen Gewalttaten gezählt werden. Darüber hinaus ist es auch das Bundesland, in dem die größte Zahl an Todesopfern rechtsextremer Gewalt zu finden ist. Der Verein Opferperspektive dokumentiert auf seiner Website insgesamt »28 Todesopfer rechter Gewalt und vier Fälle, bei denen der Verdacht besteht, dass es sich um eine politisch rechts motivierte Tat handelt«.

Die brandenburgische Landesregierung geht bisher von neun Todesopfern aus.
In der offiziellen Statistik taucht zum Beispiel der Tod von Falko Lüdtke nicht auf. Der Punk traf am 31. Mai 2000 an einer Bushaltestelle in Eberswalde auf Mike Bäther, der der rechtsextremen Szene angehörte und der deutlich erkennbar eine acht Zentimeter große Tätowierung eines Hakenkreuzes auf dem Hinterkopf trug. Lüdtke stellte ihn deshalb zur Rede, gemeinsam stiegen sie in den Bus ein, wo die verbale Auseinandersetzung weiterging. An der Haltestelle Spechthausener Straße verließen beide den Bus. Bäther forderte Lüdtke mehrfach auf, mit ihm mitzukommen, um gemeinsam ein Bier zu trinken. Lüdtke lehnte ab. Daraufhin schubste und schlug Bäther den Punk, dieser verteidigte sich. Während des Handgemenges bewegten sich beide auf die Straße zu. Bäther versetzte dem mit dem Rücken zur Fahrbahn stehenden Lüdtke schließlich einen gezielten Schlag auf den Brustkorb, woraufhin dieser sein Gleichgewicht verlor und auf die Straße taumelte, wo er von einem Taxi erfasst wurde. Lüdtke starb noch am selben Abend an seinen Verletzungen.
Bäther gab bei der polizeilichen Erstvernehmung zwar den Stoß auf die Straße zu, bestritt aber jegliche politische Dimension des Handgemenges. Im Gerichtsverfahren machte er keinerlei Aussagen. Das Landgericht Frankfurt (Oder) verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Das Gericht stellte fest: »Mit dem Tragen eines solchen, durch die Tätowierung immer präsenten Symbols auf einem den Blicken ausgesetzten Körperteil wird eine Gesinnung zur Schau getragen.« Das spätere Opfer habe den Täter nicht provoziert, so das Gericht, bei Lüdtkes Verhalten habe es sich um einen Akt der Zivilcourage gehandelt. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil im Juni 2001 auf. Er wertete die Tat nur als fahrlässige Tötung, da Bäther Lüdtkes Tod ohne Vorsatz herbeigeführt habe. Seine rechtsextreme Gesinnung sei zwar die Ursache der Tat gewesen, strafverschärfend wollten die Richter das aber nicht werten. Das Landgericht Cottbus verringerte daraufhin das Strafmaß auf ein Jahr und acht Monate Haft ohne Bewährung.

Ein von der Öffentlichkeit weitgehend ignorierter
und ebenfalls offiziell nicht anerkannter Fall ist der Tod von Horst Hennersdorf. Im Juni 1993 folterten zwei Naziskinheads den 37jährigen Obdachlosen auf einem Anwesen in Fürstenwalde stundenlang zu Tode. Sie blieben dabei nicht unbeobachtet. Mehrere Zeugen sahen den bestialischen Gewaltausbruch, ohne etwas zu unternehmen. Wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge verurteilte das Landgericht Frankfurt (Oder) einen Täter zu fünf, den anderen zu acht Jahren Freiheitsstrafe. Für das Gericht waren die beiden Skinheads zwar eindeutig der rechtsextremen Szene zuzuordnen, es konnte jedoch kein Motiv für die Tötung erkennen. Einem Psychiater sagte einer der Täter, Hennersdorf habe auf ihn den Eindruck »eines niedrigen Menschen, eines dreckigen Penners« gemacht. Über das Opfer ist kaum etwas bekannt, auch die genauen Tatumstände liegen weiterhin im Dunkeln. Es gibt viel zu tun für das Moses-Mendelssohn-Zentrum.

Freitag, 3. Januar 2014

Sie sollen draußen bleiben

Seit einem halben Jahr betätigen sich ­etliche Initiativen unter dem Slogan »Nein zum Heim« in der Flüchtlingsabwehr. Dieser widmet sich auch die neue Bundesregierung.

Ralf Fischer / Jungle World


Schon kurz nach der Eröffnung der Flüchtlingsunterkunft Anfang Dezember lagen sie vor der Tür: Dutzende Handzettel, auf denen die Parole »Nein zum Heim« stand, hatten Gegner der Einrichtung im Berliner Bezirk Pankow hinterlassen. Der Schriftzug sah genauso aus wie der, den die Gegner eines Flüchtlingsheims in Berlin-Hellersdorf verwendet hatten. Das ist nicht verwunderlich. An beiden Orten wurde diese Parole von organisierten Nazis in Umlauf gebracht.

Die Versuche der Nazis, die vorhandene Stimmung gegen Flüchtlinge wie Anfang der neunziger Jahre in Pogromen kulminieren zu lassen, gingen zwar bisher weder in Berlin noch anderswo auf. Aber das Thema taugt dazu, die Bevölkerung auf die Straße zu locken. Gerade im Osten Deutschlands sind unter dem Slogan »Nein zum Heim« etliche örtliche Initiativen entstanden, die zumindest im Internet in enger Verbindung stehen. Die kleine braune Graswurzelbewegung ist hauptsächlich im ländlichen Raum und in der Peripherie von Ballungsräumen zu finden. Die rechtsextremen Agitatoren treffen aber selbst dort auf eine tief gespaltene Bevölkerung. Einer aktuellen Umfrage in Brandenburg zufolge bereitet die Unterbringung von Asylsuchenden in ihrer unmittelbaren Wohnumgebung 64 Prozent der Befragten geringe oder gar keine Sorgen. Jeder dritte Brandenburger sieht dies dagegen anders. In Berlin lehnt nur jeder vierte Befragte ein Asylbewerberheim in seiner Wohnumgebung ab.

In Orten, in denen Nazis zahlreich und organisiert sind, gelingt es ihnen dennoch, die rechte Bürgerbewegung in ihrem Sinn zu beeinflussen. Besitzstandsängste und rassistische Ressentiments führen dazu, dass sich die Bürger leichter auf die Straße bringen lassen. Die bürgerliche Tarnung der Nazis lädt diejenigen zur Teilnahme an Aufmärschen ein, die ansonsten von der Militanz der »Autonomen Nationalisten« und Kameradschafter abgeschreckt werden. Die Rechtsextremen übernehmen dabei Aktionsformen, die sich andernorts bewährt haben: So wurde kurz vor Weihnachten im brandenburgischen Pätz, der Idee der »Lichtelläufe« im sächsischen Schneeberg folgend, ein »Lampion- und Kerzenumzug« veranstaltet. Diese Mischung aus drolligem Lampion- und martialischem Fackelumzug zog Wohlstandsrassisten jeden Alters an. Neben Jungnazis standen besorgte Mütter und Rentner Seit’ an Seit’ zur gemeinsamen Flüchtlingsabwehr.

Die offizielle Politik betreibt auf ihre Weise Flüchtlingsabwehr. So verabredeten CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag, dass Serbien, Mazedo­nien und Bosnien-Herzegowina künftig als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden. Flüchtlingen aus diesen Ländern – hauptsächlich Angehörige der Roma und anderer Minderheiten – soll es unmöglich gemacht werden, in Deutschland Asyl zu erhalten. Nach Angaben von Pro Asyl werden Asylsuchende aus diesen Staaten auf Anweisung des Bundesinnenministeriums bereits seit Herbst 2011 mit Vorrang bearbeitet, um schnellere Abschiebungen zu ermöglichen. Eine ernstzunehmende Prüfung ihrer Fluchtgründe erfolge nicht, die Ablehnung scheine im Voraus festzustehen, so die Organisation.
Die von der SPD regierten Bundesländer Schleswig-Holstein, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz stimmten dagegen noch im Dezember einem »Wintermoratorium« bis zum 31. März zu und setzten somit Abschiebungen nach Serbien, Mazedonien, Bosnien, Montenegro und in den Kosovo vorübergehend aus. Im grün-rot regierten Baden-Württemberg gilt das Moratorium nur bis zum 1. März, ausgeschlossen von der Regelung sind allerdings neu eingereiste Asylsuchende und Folgeantragsteller. Die thüringische Landesregierung lehnt dagegen wie andere von der CDU regierte Bundesländer einen Abschiebestopp ab. Die Aufnahmekapazitäten im Freistaat seien beinahe erschöpft, begründete dies Innenminister Jörg Geibert (CDU) und betonte, die »Rückführung« erfolge »mit Augenmaß«, damit es nicht zu besonderen Härtefällen komme. 2012 hatte die Landesregierung noch darauf verzichtet, in den Wintermonaten Flüchtlinge abzuschieben, die aus den betreffenden Ländern in den Freistaat geflüchtet waren, selbst wenn kein offizieller Asylgrund vorlag. Dafür wurden damals humanitäre Gründe angeführt.

Vom Koalitionsvertrag profitieren wird hingegen eine gewisse Anzahl der etwa 36 000 Personen, die seit mehr als sechs Jahren mit einer Duldung in Deutschland leben, dem prekärsten Aufenthaltsstatus. Nicht wenige von ihnen müssen ihr Leben seit Jahren in Flüchtlingsunterkünften verbringen. Sie erhalten nun ein Bleiberecht, wenn sie eine »überwiegende Lebensunterhaltssicherung« vorweisen können. Die Behörden dürfen hingegen das Bleiberecht verweigern, wenn ein Flüchtling in der Vergangenheit nur »mangelhaft« an der Vorbereitung seiner eigenen Abschiebung mitgewirkt hat. Der Willkür der Abschiebebürokratie bleiben die Geflüchteten auf diese Weise weiterhin ausgesetzt.

Eine weitere Personengruppe kann vom Koalitionsvertrag profitieren. Die neue Bundesregierung will die Behandlung unbegleiteter 16- und 17jähriger als voll verfahrensmündig beenden. Im Gegensatz zur bisherigen Praxis (Jungle World 50/13) sollen in Zukunft alle unbegleiteten Minderjährigen Schutz genießen. Zudem will die neue Bundesregierung das Arbeitsverbot auf drei Monate verkürzen. Als Haken bleibt der sogenannte Nachrangigkeitsvorbehalt. Das bedeutet: Nur wenn kein Deutscher den Job will, darf ein Asylbewerber ihn annehmen, was in den Gebieten, wo der Arbeitsmarkt äußerst angespannt ist, immer noch einem Arbeitsverbot gleichkommt.