Freitag, 14. Dezember 2012

Ein Lümmel wird König

Nein, früher war im Fußball nichts friedlich: Christian Wolter legt das Standardwerk über die Berliner Anfänge dieses Sports vor

Ralf Fischer / Junge Welt


Jeden Tag Fußball. Das Paradies auf Erden scheint ausgebrochen, wenn man über den magischen Zugang zum Bezahlfernsehen verfügt. Bei dieser Reizüberflutung scheint es unvorstellbar, daß König Fußball im Deutschland vor rund 120 Jahren ein kaum beachteter Bauernlümmel war, der sich irgendwo weit hinten auf der Beliebheitsskala, zwischen Kegelschubsen und Ameisenzählen einreihen mußte. Fußball galt als Sport aus dem fernen England, verachtet als unkultivierte Veranstaltung der unteren Schichten.

Doch irgendwann fing man in Berlin und Umgebung damit an und krempelte nach und nach die gesamte deutsche Sportwelt um, wie man in Christian Wolters Buch »Rasen der Leidenschaften« nachlesen kann.

Die Hauptstadt verfügt über den ältesten noch bestehenden Fußballklub Deutschlands: Der Berliner FC Germania von 1888 aus dem Bezirk Tempelhof, spielt zur Zeit in der neunten Liga. Da sind auch die BSC Kickers 1900 aus Schöneberg zu finden, die im Besitz des ältesten erhaltenen deutschen Fußball-Pokals sind. Und das erste Heimspiel der DFB-Nationalmannschaft fand in Berlin statt, 1908 vor 6000 Zuschauern in Mariendorf, gegen eine englische Amateurauswahl (Profis spielten auf der Insel seit 1888).

In Berlin orientierte auch der organisierte Arbeitersport in Richtung Fußball. 1923 kam es zum ersten Kräftemessen zwischen einer deutschen und einer sowjetischen Fußballmannschaft im Stadion Lichtenberg. Zwei Jahre später gastierte eine ukrainische Mannschaft in Berlin und spielte zugunsten der chinesischen Kommunisten auf einem Sportplatz unweit des Ostkreuzes. Auch die letzte kommunistische Fußballmeisterschaft wurde in Berlin ausgespielt, das Finale fand 1931 vor 10000 Zuschauern im Wedding statt.

Dem Sporthistoriker Christian Wolter ist mit seinem Buch die erste umfassende Enzyklopädie über den Berliner Fußball und seine wichtigsten Sportstätten gelungen. Auf 278 Seiten sichtet Wolter die letzten 130 Jahre Fußballtradition anhand von mehr als 60 Sportplätzen und Stadien, garniert mit vielen schönen historischen Fotos, endlosen Statistiken und spannenden Anekdoten. Beispielsweise erfährt man vom skurrilen Versuch, den Profifußball in Deutschland ausgerechnet im proletarisch dominierten Bezirk Lichtenberg auf den Weg zu bringen. Auch die vielfach verbreitete Mär, früher sei es beim Fußball friedlich gewesen, wird von Wolter en passant zurückgewiesen. 1900 etwa wurde nach dem Abpfiff des Spiels zwischen Hamburg-Altona und einer Berliner Stadtauswahl der aus Wien stammende Schiedsrichter »nach kurzer Verfolgung zu Fall gebracht und mit einem Stock über den Kopf geschlagen«. Und das war nur der Anfang einer gepflegten Randale. »Natürlich liefen unsere Berliner Fußballer sogleich zu Hilfe, aber an dem Geschehenen läßt sich nichts ändern – unsere Gäste sind malträtiert worden.« Sogar die Ausreden waren zu dieser Zeit exakt dieselben wie heute: »Unsere einzige Entschuldigung ist eben, daß die Angreifer sich scheinbar nur aus diesem Janhagel zusammensetzen, diesem unerwünschten Anhängsel des Berliner Fußballspiels«. Janhagel ist ein altes Synonym für Pöbel.

Wolter merkt man die von ihm im Titel angerufenen Leidenschaften auch an. Er vermittelt dem Leser das Gefühl, mitten drin und nicht nur dabei zu sein. Zwei Jahre lang hat er staatliche und städtische Archive durchstöbert, in Vereinsheimen geforscht und unzählige Privatpersonen aufgesucht, um in diversen Fotoalben an die besten Motive für sein Buch heranzukommen. Alles für die Sache, die runde! Selbstverständlich sieht das Buch toll aus.

Christian Wolter: Rasen der Leidenschaften: Die Fußballplätze von Berlin – Geschichte und Geschichten. vierC print+mediafabrik, Berlin 2012, 280 Seiten, 19,80 Euro

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