Montag, 12. März 2012

From Dusk till Dawn in Kreuzberg

Der Kollege Bittermann hat schon wieder ein Buch geschrieben

Ralf Fischer / Junge Welt

Wann hat in Kreuzberg das letzte Mal ein Supermarkt gebrannt? Wieso haben die Menschen hier Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol? Und weshalb zerschlagen sich alle Versuche, eine erfolgreiche Karriere als Staatsfeind zu zelebrieren, schon nach wenigen Jahren? Viele Fragen auf die es – wenn überhaupt – nur eine Antwort gibt. Die ehemalige Perle Westberlins ist zum Inbegriff des neuen Berlins geworden. Kreuzberg ist längst weit mehr als nur eine Bezeichnung für einen Ort, es ist eine Philosophie und leider zu oft auch eine Ideologie. Ob-arm-aber-sexy-Kleinbürger, moslemische Migranten, linksalternative Wagenburgler oder der 08/15 Zugezogenen-Schick, in Kreuzberg findet Berlin zu sich. In Kreuzberg wird aus einer uninspirierten Ansammlung beschaulicher Kleinstädte überhaupt erst die Großstadt Berlin.

Zunehmender Verfall begünstigte vor 30 Jahren einst den Zuzug kreativer Menschen mit recht gewöhnungsbedürftigen Dialekten. Mit dieser neuen Berliner Welle kam auch ein Verleger namens Klaus Bittermann in die Stadt. Was sich später auszahlen sollte, jedenfalls für Berlin. Denn dieser Bittermann bringt seine Beobachtungen des ganz normalen Wahnsinns rund um seine neue Behausung regelmäßig auf Papier und läßt es vervielfältigen. Dabei treffen dann skurrile Erlebnisse in thailändischen Restaurants auf banale Erzählungen über den Raubbau an menschlichen Ressourcen in deutschen Großstädten. Oder der gute Mann erzählt, wie ihm ein türkischer Goldring von einem Kapuzenträger aus dem Schlafzimmer im Parterre geklaut wird.

Das hat man alles vielleicht schon einmal gelesen. Mal hier in der jungen Welt, mal bei den Freunden und Feinden von der taz. Doch erst die gesammelten Beobachtungen geben in ihrer Fülle einen Überblick über den Stand der Gentrifizierung im Kreuzberger Graefekiez und drumherum. Denn während im Prenzlauer Berg das Ringen um die Vormacht längst zugunsten der Latte-Macchiato-Mütter entschieden ist, läuft es in SO 36 auf ein vorläufiges Unentschieden hinaus. Die verrücktesten Sonderlinge, Landstreicher, renitente Alkoholiker sowie die unterschiedlichsten Straßenmusikervereinigungen treiben hier weiterhin ihr Unwesen. Gentrifizierung bedeutet für sie mehr Publikum, neue Chancen und noch mehr Möglichkeiten, mit den eigenen Wahnvorstellungen dem bürgerlichen Wahnsinn etwas entgegenzusetzen.

Und der steckt im Detail, weiß Bittermann zu berichten. »A Canadian pizzeria is very typical«, heißt es hier; Freunde frittierter Froschschenkel echauffieren sich über Pelzimitate, 16jährige Punks tragen auf dem 1.-Mai-Ritual ein »Mile High Club«-T-Shirt, und der dröge öde Ströbele hält die Grabrede für den lebenslustigen Kunzelmann, das ist die berühmte Kreuzberger Mischung.

Ulrike Meinhof trifft auf Uschi Obermaier auf dem Weg zum Festsaal. Es strömen die Touristen, Schwaben und Altberliner aneinander vorbei, als wäre es eine einstudierte Choreographie. Bittermann beschreibt in seinem Buch »Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol« dieses für Deutschland einmalige Aufeinandertreffen von wahrlich gegensätzlichen Kulturen. Im Gegensatz zum Rest von Berlin ist Kreuzberg wohl immer eine Reise wert.
Klaus Bittermann: Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol - Kreuzberger Szenen. Edition Tiamat, Berlin 2011, 192 Seiten, 14 Euro