Freitag, 13. Januar 2012

Kleine, kleine Großstadt

Macchiato-Mütter und anderes Gefahrengut: Berlin-Prenzlauer Berg ist überall – Anja Maier hat ein Buch darüber geschrieben

Ralf Fischer / Junge Welt

Jedes Jahr zwischen Weihnachten und Silvester ist der Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg ein Naherholungsgebiet. Überall findet man Parkplätze, die Fußwege sind so leer wie die Geschäfte. Aus den sonst rappelvollen Cafés und Kneipen kommt kein Lärm. Es ist ein schönes Gefühl für die Eingeborenen.

Zwar schlendern einige Touristen durch den Kiez, aber man erkennt deutlich, daß sie nicht zu den Massen gehören, die hier sonst so traumwandlerisch durch die Straßen schlürfen, dabei eingehüllt in wetterfeste, atmungsaktive 4-Schicht-GoreTex-Massaker. Diese Leute befinden sich zu dieser Zeit entweder im Skiurlaub oder im Schoß der Kleinstadtfamilien, aus dem sie einst nach Berlin aufbrachen – manchmal fällt auch beides zusammen. Und wenn sie wieder da sind, dann erscheint einem Berlin als eine Ansammlung vieler Kleinstädte, im Prenzlauer Berg beherrscht von »Edeleltern« aus gutem Hause, ersichtlich an den Latte-Macchiato-Müttern mit ihren »Bestimmerkindern«. So zumindest beschreibt Anja Maier die aktuelle Situation in ihrem Buch »Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter«.

Nachdem die 1965 in Ostberlin geborene taz-Redakteurin vor Jahren aus dem Prenzlauer Berg ins Umland nach Brandenburg gezogen ist, wo sie am Ende eine verkehrsberuhigten Straße wohnt, kann sie sich der trügerischen Idylle von damals wie eine Forschungsreisende nähern. Was sie vorfindet, ist eine zivilisatorische Katastrophe: eine Ansammlung langweiliger Menschen, die aber genug Geld haben, um eine Eigentumswohnung zu kaufen. Überall wuseln Eltern herum, die ihren Nachwuchs zum sinnstiftenden Projekt erklärt haben. Ein Kind gilt als Statussymbol, etwa wenn Mütter mit ihren Tausend-Euro-Kinderwagen die Fußwege entlangpflügen und die Cafés schon am frühen Nachmittag zum Bersten bringen.

Von Mama wie Papa wird den Kindern die Poleposition im Alltag eingeräumt, weil sonst im Leben nichts Spitze ist. Das Kind soll nicht nur irgendwelche Wünschträume erfüllen, nein, es soll auch die Wunden der als zumindest ausbaufähig empfundenen eigenen Kindheit heilen helfen. Gefüttert mit Biojoghurt auf einer Original-Lammwolldecke und indischem Gesang im Hintergrund.

Anja Maier beschreibt diesen Zustand locker-leicht, aber auch mit der nötigen analytischen Schärfe. Ihre Einblicke erschrecken sogar jene, die immer noch im Prenzlauer Berg wohnen, obwohl sie längst nicht mehr in diesen Kiez passen. Seit über zehn Jahren verändert sich die Gegend von der Amüsiermeile hin zu einer beschaulichen konservativen Kleinstadt mit Kinderüberhang. Erst kürzlich schloß ein weiterer Club im Kiez, da es die neuen Nachbarn mitten in der Stadt lieber etwas ruhiger mögen. Die Schizophrenie, in einen Stadtteil, der dafür berühmt ist, daß man in ihm lange ausgehen kann, ziehen zu wollen, um dann dort seine Ruhe zu verlangen, ist schon hinlänglich beschrieben worden. Aber all die anderen Verrücktheiten, die das mit sich bringt, hat Maier in ihren 44 Kapiteln beeindruckend zusammengefaßt. Doch bei näherer Überlegung fällt auf, daß diese Sitten und Gebräuche nicht nur im Prenzlauer Berg üblich sind. Eigentlich ist es beinahe überall dasselbe, ob nun im Hamburger Schanzenviertel, im Münchner Glockenviertel, in Dresden-Neustadt oder eben im Prenzlauer Berg. Es wächst eine neue Generation heran, die ihre Eltern fest im Griff hat und für die stets gilt: Me first. »Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter« ist ein Sittengemälde unserer Zeit. Darin hat Maier auch oppositionelle Stimmen eingearbeitet, um völlig dem Kulturpessimismus zu verfallen. Wie zum Beispiel die großartige Kaffeehauschefin, die sich im Buch ausführlich über die beschissene Gesamtsituation aufregt: »In vier Jahren läuft hier mein Pachtvertrag aus. Kann sein, ich muß gehen, weil dieser Hamburger Heini von Vermieter ’ne Hebammenpraxis reinsetzen will. Kann aber auch sein, ich bleibe. Und wissen Sie, was ich dann mache? Dann mach ich hier ’n Pornoladen auf, mit allem Drum und Dran.«
Anja Maier: Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter. Von Edeleltern und ihren Bestimmerkindern. Bastei-Lübbe, Köln 2011, 256 Seiten, 8,99 Euro

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