Montag, 1. Mai 2006

«Weil für mich jeder Mensch etwas Besonderes ist»

Im Gespräch mit Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung

 

Ralf Fischer / Jüdische Zeitung


RF: Frau Kahane, wir sitzen hier in den Räumen der Amadeu Antonio Stiftung. Sie sind seit mehreren Jahren Vorsitzende der Stiftung. Wir kam es zu deren Entstehen, und was ist das vorrangige Anliegen?

AK: In der Zeit, bevor wir die Amadeu Antonio Stiftung gegründet haben - das war 1998 - habe ich viele Jahre auf der Geld nehmenden Seite gesessen und immer Anträge gestellt, um Projekte gegen Rechtsextremismus und für interkulturelle Bildung in Gang zu bringen. Doch recht bald hatte ich das Gefühl, das reicht nicht. Wir brauchten auch eine Stiftung, die wiederum anderen Leuten zur Seite steht, um sie mit Geld, Rat und Tat zu unterstützen. Und so kam es zur Gründung der Stiftung.

Woher kommt die Unterstützung für die Amadeu Antonio Stiftung?

Wir sind eine private Stiftung. Das heißt, wir sammeln Spenden, und wir bekommen Zustiftungen - kleine, aber immerhin. Und so versuchen wir nach und nach eine Stiftung aufzubauen, die Projekte und Initiativen gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus nachhaltig fördern kann. Doch wir fördern nicht nur, sondern gehen bestimmte Themen auch selbst an - zum Beispiel Antisemitismus. Der ist ja gerade auch in Ostdeutschland sehr tief verwurzelt und hat jetzt, unter den neuen weltpolitischen Voraussetzungen, ein anderes Gesicht bekommen. Darüber hinaus beschäftigen wir uns mit Bürgerstiftungen für demokratische Kultur, entwickeln Schulmaterialien zu den Themenkomplexen Geschichte, Islamismus und menschenfeindliche Ideologien. Wir unterstützen auch «Exit», das Aussteigerprojekt für Leute, welche die rechte Szene verlassen wollen.

Ein bekanntes Beispiel für ihr lokales Engagement ist der jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee, der ja nun leider regelmäßig von Antisemiten geschändet wird. Die Stiftung hatte sich im Jahre 2001 engagiert, als über 100 Grabsteine zerstört wurden...

...übrigens auch der meiner Großeltern.

Damals hat die Stiftung einen Berliner Steinmetz unterstützt, der die teilweise komplett zerbrochenen Grabsteine kostenlos wieder hergerichtet hat. 

Das ist wirklich eine sehr traurige Geschichte. Der Steinmetz Ottmar Kagerer hatte damals seine Kollegen von der Innung aufgefordert, die Gräber kostenlos zu reparieren, welche die Neonazis kaputtgeschlagen hatten - und ist dann selbst Opfer der Rechten geworden. In einer einzigen Nacht wurde ihm das gesamte Steinlager zertrümmert. Deshalb haben wir für ihn Geld gesammelt. 

Viele Leute haben damals kleine Spenden gegeben, und es kam mehr Geld zusammen, als benötigt wurde, um die zerstörten Steine zu ersetzen. Das war der erste Grundstock der Stiftung, um Opfer rechter Gewalt zu unterstützen. Damit haben wir dann den ersten kleinen Opferfond gegründet.

Wie haben Sie es geschafft, in den vergangenen acht Jahren immer wieder den Mut und die Kraft zu finden, sich andauernd in der Öffentlichkeit gegen rechte Gewalt zu positionieren?

Die Frage, wie lange man es aushält, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, lässt sich auch mit so einer Geschichte wie Weißensee beantworten. Es gibt immer wieder Situationen, in denen unserem Anliegen unerwartet viel Solidarität entgegengebracht wird oder die Bereitschaft, sich auseinanderzusetzen, steigt - weit über die eigenen Kräfte hinaus. Und das gibt mir persönlich auch immer wieder sehr viel Kraft. Ansonsten frage ich mich das natürlich nicht jeden Morgen beim Aufstehen.

Zwischenmenschlicheaufmunterung und Ermutigung lädt Ihre Batterien also immer wieder auf?

«Aufladen» ist zuviel gesagt. Es passieren ja leider immer mehr negative Sachen als positive. So sieht das Dilemma aus: Wenn man sich sehr damit beschäftigt, dann sieht man die Dinge auch stärker. Es gibt zum Beispiel viele Leute, welche die Landkarte rauf und runter Ortsnamen anhören können, die ihnen nichts weiter sagen als: «kenn ich nicht», «schöne Landschaft», «war ein netter Urlaub» oder: «Da muss ich mal hinfahren». Es sind aber oft auch Orte der Gewalt, und für mich ist das dann meist eine Topographie des Terrors. Doch ich denke nicht immer nur an das Schlechte. Je mehr andere Leute diese Probleme wahrnehmen, sich darüber aufregen und zu handeln beginnen, desto entlasteter fühle ich mich.

Bekommt die Stiftung substantielle Unterstützung von außen? Und wenn ja, von wem? 

Ja, klar. Zum Beispiel von den Spendern, die statt einem Abo uns regelmäßig Geld überweisen. Oder von Jugendlichen, die Konzerte für uns veranstalten. Oder von Brautpaaren, die zu unseren Gunsten auf Blumen oder Geschenke verzichten.

Des Weiteren hat die Stiftung natürlich auch eine gewisse Anregungsfunktion in der gesellschaftspolitischen Diskussion darüber, was man jetzt gegen Rechtsextremismus machen kann. Deshalb unterstützt uns die Freudenberg-Stiftung aus Weinheim, und wir bekommen Gelder aus staatlichen Programmen für spezielle Projekte. So haben wir in den letzten Jahren, besonders in Ostdeutschland, Fortbildungsseminare für Mitarbeiter organisiert, die in Anti-Rechts-Initiativen aktiv sind, vor allem zum Thema «Neuer Antisemitismus». Die Tradition, aus der die Anti-Rechts-Leute kommen, ist ja nicht immer frei von Antisemitismus, um es mal vorsichtig auszudrücken.

Das ist kein erfreulicher Zustand: Die zivilgesellschaftlichen Aktivisten gegen Rechtsextremismus müssen zum Thema Antisemitismus extra beraten werden. Wie Erfolg versprechend ist Aufklärung bei diesem Thema überhaupt?

Es gibt gerade unter meinen jüdischen Freunden nicht wenige, die mir immer mal wieder den Vogel zeigen und sagen: «Du spinnst total». Mit Aufklärungsmaßnahmen, Informationsveranstaltungen und pädagogischen Interventionen etwas gegen Antisemitismus zu bewirken, halten sie für Zeit- und Kraftverschwendung. Mir tut so eine Art von Zynismus ein bisschen weh, aber es ist auch etwas Wahres dran. Doch man kann und muss etwas tun, zum Beispiel in der Bildung, durch allgemeine Information und natürlich auch durch Repression. Es darf den Antisemiten und Rassisten auch weiterhin nicht erlaubt sein, ihre «Sau durchs Dorf zu treiben».

Beim neuen Antisemitismus wirken natürlich Bilder und Traditionen aus der Vergangenheit nach, und dabei gibt es durchaus auch Unterschiede zwischen Ost und West.

Wenn ich beispielsweise in den neuen Bundesländern unterwegs bin, dann spüre ich auch, dass die Nazizeit mit all ihren Verbrechen dort noch massiver verdrängt wurde, und ich spüre auch, was strukturell an Antisemitismus in der DDR-Zeit vorhanden war. Da wurden einfach Friedhöfe platt gemacht, Einrichtungen der jüdischen Gemeinden zweckentfremdet genutzt oder in einer Weise mit Überlebenden des Holocaust umgegangen, dass einem die Spucke wegbleibt.

Der Antisemitismus wurde in der DDR als «Sozialismus der dummen Kerls» verstanden. Und der Nationalsozialismus als alleinige Veranstaltung des Großkapitals...

Richtig, und am Ende steht hinter dem Großkapital das Judentum, und dann sind die Juden wieder selbst Schuld. Außerdem - und das dürfen wir nicht vergessen oder unterschätzen - war die DDR erfüllt von wirklich aggressivem und bösartigem Antizionismus. Der Staat Israel ist ja von Seiten der DDR nie in seinem Existenzrecht anerkannt wurden. Das muss man sich einmal vorstellen: Ein deutscher Staat bestreitet das Recht des jüdischen, überhaupt da zu sein! Die DDR-Propaganda verkündete tagtäglich ihre antisemitische Hetze gegen Israel. Man darf auch nicht vergessen, dass außerdem viele Terroristen hier ausgebildet wurden. Westdeutsche wie arabische. Oftmals, wenn ich einschlägige linke Blätter lese, habe ich das Gefühl, ich höre diesen alten DDR-Jargon wieder. Leute, die heute noch solche antizionistischen Töne verkünden, müsste man mal in ein Archiv setzen und ihnen drei Tage hintereinander bei Matze und Tee den «Schwarzen Kanal» und die «Aktuelle Kamera» vorführen.

Frau Kahane sie sind selbst in der DDR aufgewachsen. Mit 16 Jahren haben sie offen einen Davidstern um den Hals getragen. Wie war die Reaktion der Umwelt? 

Das ist in Deutschland nie ohne Risiko, aber in der DDR war es etwas Besonderes. Meine Eltern fanden es überhaupt nicht lustig. Meine Muter wollte solche Bekenntnisse nicht. Und mein Vater hatte Angst um mich. Und er hatte auch Grund dazu. Die Leute haben mich darauf angesprochen, in meiner Gegenwart furchtbare Judenwitze erzählt - oder antisemitische Bemerkungen gemacht und sich halb tot gelacht, wenn ich dann empört war. Denn: Strafe muss sein - selber Schuld, wer so etwas trägt. Unrechtsbewusstsein oder irgendeine Form von Schamgefühl gab es da gar nicht. 

Doch ich fühlte mich nicht nur als Jüdin sehr unwohl, es ging überhaupt allen Leuten so, die als «Abweichler» definiert wurden. Wenn man aus der Reihe tanzte oder dachte, dass man etwas Besonderes ist, dann war das ein ganz furchtbares Vergehen am Geist des Kollektiven. Manchmal wurde ich gefragt, ob ich mir denn einbilde, was Besonderes zu sein. Dann habe ich immer geantwortet: «Ja, klar. Weil für mich jeder Mensch etwas Besonderes ist!».

Sie engagieren sich seit langem nicht nur gegen Rechts, sondern auch bei der Integration von Zuwanderern und ehemaligen Vertragsarbeitern. Auch hier hatte sich die DDR nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Im SED-Staat wurden die Vertragsarbeiter aus Asien und Afrika in gesonderten Heimen untergebracht, was sie auf ihre Weise entfremdete und den Kontakt zur Bevölkerung erschwerte. Kann man den Umgang der DDR mit Juden und mit Ausländern vergleichen?

Nein, auf keinen Fall. Die Politik gegenüber den Vertragsarbeitern war eindeutig rassistisch. Sie hatten kaum Schutz und fanden wenig Solidarität. Nur einige Kircheninitiativen halfen bei eklatanten Menschenrechtsverletzungen, wenn es irgendwie ging. Die Situation der Juden stellte sich ganz anders dar. Die Juden galten immerhin als Bürger der DDR. Und dennoch gibt es einen Zusammenhang: Wer - wie die Menschen im sozialistischen System - nicht gefordert war, über die unselige Tradition des Umgangs der Deutschen mit Minderheiten zu reflektieren, konnte kaum die Verletzung der Würde von Menschen wahrnehmen, die in der DDR ausschließlich zum Arbeiten da waren und vom Rest der Gesellschaft abgeschottet wurden. Die Jüdischen Gemeinden haben sich damals leider überhaupt nicht für diese Vertragsarbeiter eingesetzt.

Nun zu den Juden in der DDR: Die meisten von ihnen waren ja keine Mitglieder der Gemeinde. Sie waren meist Kommunisten und damit säkular. Denn während in Westdeutschland nach der Befreiung der Lager sehr viele osteuropäische Juden zunächst in DP-Camps kamen und später auch in Westdeutschland blieben, kehrten in den Osten, also in die SBZ und spätere DDR, fast ausschließlich jüdische Kommunisten zurück. Und die waren Deutsche. Es gab also weitaus mehr deutsche Juden in der DDR als in der Bundesrepublik. Die kommunistischen Juden kamen zurück, weil sie glaubten, dass man mit Aufklärung und einem neuen, sozialistischen System einen besseren Staat aufbauen kann. Zu denen gehörten auch meine Eltern, und die waren natürlich mit dem Staat eng verbunden. Sicher, die wenigen jüdischen Gemeindemitglieder wurden immer gehegt und gepflegt. Die Gemeinden waren dem Staat vollkommen loyal gegenüber. Nur ab und zu regte sich Kritik an dem harschen antizionistischen Kurs von Partei und Regierung. Unter starken staatlichen Druck gerieten Juden in der DDR nur, wenn sie opponierten. Und dann blieben sie in der Regel nicht lange und gingen in den Westen. Daran sieht man, dass die Rolle der Juden in der DDR eine ganz andere war, als die der eingepferchten Arbeiter aus Afrika und Asien. Die Rolle der Juden mochte ambivalent gewesen sein, aber die Lebensbedingungen der ausländischen Vertragsarbeiter hingegen waren einfach nur skandalös.

Kam es denn aus Ihren DDR-Erfahrungen oder eher durch die Pogromstimmung Anfang der 90er Jahre, im bereits vereinigten Deutschland, zu Ihrem antirassistischem Engagement?

Mich haben alle diese Fragen schon immer sehr beschäftigt. Ich studierte deshalb auch Lateinamerikanistik und konnte auch dabei mitbekommen, wie problematisch - um nicht zu sagen: rassistisch - die Haltung der DDR gegenüber Menschen mit einem anderen Aussehen war. Diese Erfahrung hat meine eigenen Fremdheitsgefühle verstärkt und natürlich auch auf das ausgedehnt, was mit anderen Leuten geschieht. Als dann die Wendezeit kam, habe ich sofort reagiert und im Rahmen des Neuen Forums dazu aufgerufen, sich mit Ausländerfragen zu beschäftigen. Erst da fanden wir geeignete Möglichkeiten, wirklich handeln und helfen zu können. Unsere kleine Initiativgruppe war sich einig: «Jetzt schauen wir uns das alles systematisch an» - und sofort kamen Fragen auf wie: Was sind das überhaupt für Verträge, unter denen die ausländischen Menschen hier arbeiten müssen? Oder: Wie sieht es mit den binationalen Ehen aus? 

So begann ich auch die Arbeit am zentralen Runden Tisch der DDR, und einige unserer Vorschläge schafften es auf die Agenda der Beschlüsse. Übrigens führte einer der ersten dazu, dass die Juden aus der Sowjetunion in die DDR einwandern können. So beschloss es auf unsere Anregung die Volkskammer. Das war ein großartiger Erfolg. Plötzlich kam ich dann dazu, ein Amt zu bekleiden. Politisch «von Null auf 120» zu beschleunigen, hatte auch etwas Komisches. Mit einem Mal war ich Ausländerbeauftragte des Berliner Magistrats. Wir haben unglaublich viel und hart gearbeitet, um ein paar Sachen in Gang zu bringen. Mit dem Einigungsgesetz fiel das dann alles wieder in sich zusammen. Von unseren ausländerrechtlichen Vorschlägen wurde absolut nichts übernommen. Über Umwege gelang es dann dennoch, den Zuzug der sowjetischen Juden zu sichern.

Kann man sagen, dass die antirassistische Arbeit in Deutschland in den letzten Jahren schon einige Früchte getragen hat, die Ausländerfeindlichkeit aber aktuell durch antisemitische Ressentiments abgelöst wird?

Nein, das würde ich nicht behaupten wollen. Es gibt nach wie vor beides - Rassismus und Antisemitismus. Der Antisemitismus hat deutlich zugenommen, doch abgelöst hat er den Rassismus keineswegs. Und ja, ich denke schon, dass wir Erfolge bei der antirassistischen Arbeit vorweisen können. Inzwischen haben Teile der Bevölkerung auch in ländlichen Gebieten gelernt, dass die Menschen verschiedenster Herkunft zusammenleben müssen. Das heißt nicht, dass der Rassismus verschwunden ist. Ich glaube, dazu hat er sich zu stark in der Mitte der Gesellschaft etabliert. Doch da unsere Arbeit gut läuft, gibt es jetzt auch mehr Jugendliche, die sich eindeutig gegen Rechtsextremismus positionieren. Abrufbar bleibt der Rassismus aber jederzeit - sollten Politik und Medien es darauf anlegen. Ich denke aber, dass dies niemand will. Doch sollte auch niemand mit dem populistischen Feuer spielen - das geschieht immer wieder und ist gefährlich.
Der Antisemitismus funktioniert anders, mal subtil und mal offen. Er war im Osten versteckt in bestimmten kulturellen, politischen und sozialen Bildern. Er war codiert, wie in einem Kokon. Ich habe schon vor dem 11. September 2001 prognostiziert, dass Antisemitismus sich auch im Osten entfalten wird. Es war klar, dass er irgendwann schlüpfen würde. Nach dem 11. September ist eine Situation eingetreten, die dem Antisemitismus einen weiteren Impuls gegeben hat. Gerade dieser Anschlag in New York hat den Ostdeutschen suggeriert, dass es nicht alles falsch war, was sie im Staatsbürgerkundeunterricht über die bösen Zionisten, die bösen Amerikaner und überhaupt die Ursachen aller Probleme auf der Welt gelernt haben. Deswegen meine ich, dass zum Rassismus noch weiteres dazugekommen ist.

Derzeit wird oft behauptet, die Islamophobie hätte den Antisemitismus abgelöst. Das halte ich für reine Polemik. Ich bin nicht sicher, was an aktuellen ausländerfeindlichen und rassistischen Äußerungen und Stimmungen wirklich islamophobisch ist. Das untersucht auch die Forschung zurzeit noch. Ich glaube aber, dass es hierzulande einen Rassismus gibt, der sich gegen die «Ausländer» an sich richtet und der die Religion nur vorschiebt. Was an der Religion, vor allem am politischen Islam wirklich gefährlich ist, wird dabei verdeckt. Deswegen muss man hier ganz genau unterscheiden.

Es kursiert ja auch die groteske Behauptung, die Moslems seien die Juden des neuen Jahrtausends...

Ach, da gibt es auch noch andere schöne Sachen. Zum Beispiel hat ein ehemaliger DDR-Schriftsteller neulich behauptet, die Ostdeutschen seien die Juden der Westdeutschen, weil sie deren Opfer sind. Unglaublich! Also, man kann heute alle möglichen Leute zu den Juden machen. Damit wird immer wieder das Singuläre am Holocaust und an der deutschen Geschichte relativiert. Das ist natürlich Blödsinn und verantwortungslos.

Woher kommt Ihrer Meinung nach die Motivation zu solch einem Geschichtsrevisionismus?

Man will sich entlasten. Wenn alles das Gleiche ist, dann brauchen wir uns über das Spezielle auch keine Gedanken mehr zu machen. Dann müssen wir darüber nicht mehr nachdenken und können den Juden im Nachhinein noch einmal einen Tritt verpassen.


Zur Person: Anetta Kahane

wurde 1954 in Ostberlin geboren, ihre Eltern waren während der nationalsozialistischen Diktatur aus politischen und rassischen Gründen verfolgt worden. Von früh an interessierte sie sich für andere Länder und Kulturen. In den 1970er Jahren studierte Anetta Kahane Lateinamerika-Wissenchaft und afrikanische Sprachen an der Humboldt-Universität Berlin. Während der 1980er Jahre arbeitete sie als Sprachdozentin und (literarische) Übersetzerin. Im Frühjahr 1989 begann ihr Engagement beim «Neuen Forum», wo sie eine Arbeitsgruppe Ausländerfragen mit initiierte. Während der politischen Wende 1989/90 wurde sie zur Ausländerbeauftragten des Ostberliner Magistrats. Mehr als zehn Jahre lang baute Anetta Kahane danach in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen das Netzwerk «Regionale Arbeitsstellen für Ausländerfragen» (RAA) mit auf. Im Dezember 1998 war sie Gründungsmitglied der Amadeu Antonio Stiftung, seit drei Jahren leitet sie den Stiftungsvorstand. Im Jahre 2004 erschien Anetta Kahanes Autobiographie unter dem Titel «Ich sehe was, was du nicht siehst. Meine deutschen Geschichten» bei Rowohlt Berlin. Sie ist Mutter einer 20jährigen Tochter.

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