Montag, 2. Mai 2005

"Der Schornstein stand mir bevor“

Ralf Fischer ist 26, Ernst Bellasch 81. Beide trafen sich im April 2005 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen. Fischer half, dort als Student die Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZs vorzubereiten. Er interviewte Bellash, der als Zeitzeuge aus Belarus kam. Nur durch Glück hat der Weissrusse seine Leidenszeit in deutschen Lagern überlebt.

Ralf Fischer / Politik Orange


Dichtes Gedränge auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen in Oranienburg. Einige hundert Überlebende aus Russland, Frankreich, der Ukraine, Israel, Holland, Polen, Dänemark und anderen Ländern sind zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ durch sowjetische und polnische Soldaten angereist.

Die meisten noch lebenden ehemaligen Häftlinge sind schon 80 bis 90 Jahre alt. Oder noch älter. Doch trotz des Alters beeindruckt ihr Willen, sich dem Ort des Grauens zu stellen. Ernst Bellash aus Belarus, mit seinem Lächeln und seiner charmanten Art des Erzählens, ist einer von ihnen. Statt eines Namens steht eine vierstellige KZ-Nummer auf seinem Schild. Die Nummer ersetzt einen Namen. Kaum fassbar für Menschen, die nach 1945 geboren wurden. Ziffern statt Buchstaben, um Menschen zu unterscheiden, „8268“ statt Ernst Bellash.

Als er im Dezember 1925 in der Sowjetunion geboren wurde, war er der Sohn eines Revolutions- helden. Eines großen Helden, wie er sagt. Sein Vater kämpfte während des Bürgerkriegs auf Seiten der Bolschewiki. Fünf Jahre nach seiner Geburt zog er gemeinsam mit seinem Vater aus der belorussischen Heimat nach Leningrad. Sein Vater studierte an der Akademie, der zwei Jahre ältere Bruder und er kamen in die Schule.

1935 verlor er seinen Vater, sein Vorbild

Ernst Bellash verlor 1935 seinen Vater, sein Vorbild. Während seine beiden anderen Brüder auf das Internat gingen, zog Ernst Bellash zu seiner Großmutter nach Belarus zurück. Mit ihr ging er nach Ostpolen, als dieser Landesteil unter sowjetische Herrschaft kam. Hier war die Großmutter geboren worden. Zwei Jahre lang lebte er im Dorf Loknovic bis die Deutschen 1941 einrückten. Mit 15 Jahren musste er untertauchen und sich verstecken.

1942 wurde er zum Arbeitsdienst herangezogen. Auf einem Gut half er dem Buchhalter beim Auszahlen der Löhne. Seinen Job nutzte er auch, um antifaschistische Zeitungen, Papiere und wichtige Informationen weiterzuleiten. Doch eine Lehrerin verriet ihn an die Polizei. Nur knapp sagte er dazu: „Mein Glück war es, dass die einheimische Polizei mich verhaftete. Sonst wäre ich wahrscheinlich sofort erschossen worden.

Als Zwangsarbeiter rekrutiert

Aus dem Knast wurde er im März 1943 wieder für den Arbeitsdienst rekrutiert. Die Nazis holten sich junge, kräftige Männer und Frauen als Sklaven per Zug ins Reich. Wieder arbeitete er auf einem Landgut. Diesmal in der Nähe von Greifswald und gemeinsam mit Franzosen und Polen. Im Herbst wurde er nach einem Reitunfall in den Westen des Nazi-Reichs nach Reith bei Krefeld beordert. 

Die Zwangsarbeiter säuberten nach den Bombenangriffen der Alliierten Straßen und schichteten die noch nutzbaren Ziegelsteine aufeinander. In Krefeld schloss er sich einem Antifa-Zirkel an und bereitete gemeinsam mit anderen Gefangenen seinen Ausbruch vor. Nach dem ersten Versuch kehrten sie wieder in die Unterkünfte zurück. Doch beim zweiten waren sie zu viert erfolgreich. Es gelang ihnen, über die Kanalisation die Stadt zu verlassen und bis zur Weichsel zu fliehen.

Der Glaube an den Kommunismus sowie ihre patriotischen Gefühle ließen die jungen Männer diese waghalsige Flucht wagen. Fast wäre sie gelungen. Doch hungrig, müde und schmutzig griff sie Kriminalpolizei an der Weichsel auf. Von dort kamen sie in ein Nazi-Lager. Weil die Verhöre keine Ergebnisse brachten, lieferte man die Flüchtlinge in das Gestapo-Gefängnis in Poznan ein.

Weil auch dort alle vier Männer, trotz Folter, nicht verrieten, dass sie eigentlich entflohene Zwangsarbeiter waren, wurden sie zusammen zur Arbeit auf ein Schloss geschickt. Gefesselt mussten sie wenig später nach Groß Rosen. Dort rasierte man ihnen einen Streifen auf den Kopf. Als Erkennungszeichen. Nach einigen Wochen bekam Bellash ein Augenleiden. Es wurde so schlimm, dass er eine Augenbinde tragen musste und arbeitsunfähig wurde. Das war im Frühling 1944.

Von Sachsenhausen nach Bergen-Belsen

Arbeitsunfähigkeit bedeutete Abtransport. Die Richtung entschied der Lagerleiter. Der „Schornstein stand mir bevor“, sagte Bellash wortkarg zu dieser Situation. Warum es das Konzentrationslager Sachsenhausen wurde, kann er sich auch nicht erklären. Auch nicht, wieso er nach einem Monat weiter musste, nach Rechlin, den Flughafen ausbauen.

Die Qualen waren unbeschreiblich. Als unser Gespräch auf die Zeit nach der Zwangsarbeit in Rechlin kam, in der Bellash im KZ Dora arbeiten musste und später sogar noch in das KZ Bergen-Belsen verschleppt wurde, brach er das Gespräch ab. Die Herzlichkeit mit der er erzählte, bekam einen radikalen Bruch, die ahnen lässt, wie entsetzlich diese Zeit gewesen sein muss. Bellash sagte zum Abschied sehr leise: „Vielleicht erzähle ich es ein anderes Mal. Heute nicht mehr.

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