Montag, 3. März 2003

Befreiung, Antisemitismus und die Linke

Ralf Fischer / Rundbrief der AG Antifaschismus beim Parteivorstand der PDS

Befreiung und Freiheit sind keineswegs dasselbe. Zwar ist Freiheit ohne Befreiung nicht möglich, aber sie ist niemals einfach nur das selbstverständliche Resultat der Befreiung.“ Hannah Arendt

Auch wußte die bekannte Philosophin Hannah Arendt schon in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, dass es sich bei der Annahme, Antisemitismus sei ausschließlich ein Phänomen der politischen Rechten, um ein hartnäckiges Vorurteil handelt. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno stellten in ihrem Standardwerk „Dialetik der Aufklärung“ zum Antisemitismus nach dem Holocaust folgendes fest: „Die Juden sind heute die Gruppe, die praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieht, den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus produziert. Sie werden vom absolut Bösen als das absolute Böse gebrandmarkt. So sind sie in der Tat das auserwählte Volk. Während es der Herrschaft ökonomisch nicht mehr bedürfte, werden die Juden als deren absolutes Objekt bestimmt, mit dem bloß noch verfahren werden soll. Den Arbeitern, auf die es zuletzt freilich abgesehen ist, sagt es aus guten Gründen keiner ins Gesicht; die Neger will man dort halten, wo sie hingehören, von den Juden aber soll die Erde gereinigt werden, und im Herzen aller prospektiven Faschisten aller Länder findet der Ruf, sie wie Ungeziefer zu vertilgen, Widerhall.

Innerhalb der europäischen Arbeiterbewegung wurde Antisemitismus immer wieder geleugnet, verharmlost oder entschuldigt. Doch darüber hinaus wurde er und wird noch heute als sogar konsequenter Antikapitalismus offen propagiert. Als bekanntestes Beispiel der Vergangenheit gilt das ZK-Mitglied der deutschen KP Ruth Fischer. Sie forderte 1923 in einer Rede: „Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie!

Als radikalste praktische Form eines linken Antisemitismus gelten die stalinistischen Kampagnen gegen den „Zionismus“ und „Kosmopolitismus“ in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Die von Lenin geführte Oktoberrevolution hat den russischen Juden zahlreiche Vorteile im Vergleich zur Zarenzeit gebracht. Doch mit Stalin kam ein Mann an die Macht in der Sowjetunion, der bereit war Antisemitismus als politisches Mittel einzusetzen.

Stalin wandelte sich in der Zeit von einem taktischen zu einem überzeugten Antisemiten. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützte zwar die Sowjetunion kurzfristig das Projekt der Gründung des Staates Israel. Doch spätestens Ende der vierziger Jahre wurde der Antizionismus zur Staatsdoktrin und damit zu einem Element staatlicher Ideologie und Praxis, bei dem die Regierungen der SU und anderer Staaten des sogenannten „Ostblocks“ auf die Gefolgschaft ihrer Bevölkerung rechnen konnten.

Die SED zum Beispiel begrüßte zwar noch 1947 den UN-Beschluß zur Teilung Palästinas, doch gleichzeitig wurden die Wiedergutmachungsbestrebungen gegenüber Israel mehrheitlich abgelehnt. Gegenüber Leo Bauer begründete Walter Ulbricht dieses Verhalten wie folgt: „Kommt gar nicht in Frage. Wir bauen hier unseren Saat, und da die Opfer des Faschismus die entscheidenden Träger dieses Staates sind, wäre es doch lächerlich, wenn sie sich selbst eine Wiedergutmachung zahlen wollten. Und die Juden? Nun, wir waren immer gegen die jüdischen Kapitalisten genauso wie gegen die nichtjüdischen. Und wenn Hitler sie nicht enteignet hätte, so hätten wir es nach der Machtergreifung getan.

Über das Recht der Juden auf einen eigenen Staat wurde innerhalb der DDR-Medien bis 1950 positiv berichtet. Israel wurde als fortschrittliches Land betrachtet, dass sich gegen die Aggression der von England unterstützten arabischen Feudalcliquen zur Wehr setzen müsse. Offen israelfeindliche Artikel erschienen erstmals im Zuge des Slànsky-Prozeß Anfang 1953. Im Laufe der Jahre entwickelten sich die „Partei des schaffenden Volkes“ und die ihr angeschlossenen Jugendorganisationen sowie Medien in der DDR zu den wichtigsten Träger der sogenannten „antiimperialistischen Solidarität“ mit den weltweit unterdrückten Völker, und damit einher gehend für antiisraelische und antizionistische Propaganda.

In der Geschichte der westdeutschen Linken lassen sich von der Sozialdemokratie, über die Grünen und selbstverständlich die Alternativen, feministischen Gruppierungen, K-Gruppen, Autonomen und Antiimperialisten bis hin zu den bewaffneten Gruppen Aussagen und Handlungen belegen, die jede Differenzierung zwischen Antizionismus und Antisemitismus überflüssig werden lassen.

Typische Beispiele dafür sind der Anschlag der „Tupamaros“ auf das jüdische Gemeindehaus 1969
in Westberlin, die Lobeshymnen linker Gruppen anläßlich der Ermordung israelischer Sportler bei der Olympiade 1972 in München, oder – der Klassiker – die Parole in der Hamburger Hafenstraße, die da tönte „Boykottiert ‚Israel‘! Waren, Kibbuzim und Strände … Palästina – das Volk wird dich befreien ... Revolution bis zum Sieg“.

Diese Parole hat alle zentrale Elemente des linken Antizionismus in sich vereint. Die Delegitimierung des Existenzrecht von Israel, die Ignoranz gegenüber der Verfolgung der Juden während des Nationalsozialismus sowie die Begeisterung für Volk und Lebensraum vorgetragen in einer revolutionären Befreiungsrhetorik.

Antisemitismus in der Linken manifestiert sich, wie schon weiter oben erwähnt, nicht nur im Antizionismus. Heute, da es seit Jahrzehnten innerhalb der Linken massive Kritik an antizionistischen Positionen gibt, muss vor allem die Diskussion über den strukturellen Antisemitismus weiter forciert werden. Ein wichtiger Faktor des Antisemitismus ist die Feindschaft gegenüber der abstrakten Seite der kapitalistischen Warenproduktion, die nur zu oft in den Juden biologisiert wird. Am deutlichsten wurde das bei der im Nationalsozialismus vorgenommenen Trennung in deutsches „schaffendes Kapital“ und jüdisches „raffendes Kapital“.

Die Grundlage dieser Trennung ist die Tendenz in fast allen Subjekten in der bürgerlichen Gesellschaft in Arbeitsplätze schaffende Industriekapitalisten einerseits und das scheinbar unproduktive Kapital der Zirkulationssphäre andererseits zu unterscheiden. Gerade in der aktuellen Debatte über die sogenannte Globalisierung finden sich zahlreiche Argumentationen, die inhaltliche Affinitäten, und viel öfter noch strukturelle Ähnlichkeiten zum Antisemitismus aufweisen.

Der linke Antisemitismus muß im Zusammenhang mit einer Kritik an jeglicher linker Ideologie erörtert werden. Der Antizionismus in den ehemaligen realsozialistischen Ländern wird in der Regel ausschließlich als taktisches Manöver der Staatsführung verstanden, anstatt ihn in Beziehung zur Ideologie des Marxismus-Leninismus zu setzen. Viele Kritiker des linken Antisemitismus haben ein funktionalistisches Antisemitismusverständnis ähnlich wie die von ihnen Kritisierten.

Wichtig zu erkennen ist, dass gerade die allgemeinen linken Vorstellungen von Kapitalismus, Imperialismus, von Staat, Nation und Volk sowie von Faschismus und Nationalsozialismus sehr viel mit dem Antisemitismus in der Linken zu tun haben. In den größten Teilen der Linken ist nämlich der Faschismus sowie der Nationalsozialismus darauf reduziert, eine besonders garstige, von den aggressivsten Fraktionen des Establishment dominierte Form von Kapitalismus zu sein.

Kapitalismus wird häufig in der Linken nicht als gesellschaftliche Totalität begriffen, sondern als eine Addition aller Kapitalisten, denen die Klasse der Lohnabhängigen als prinzipieller Antagonismus scheinbar unversöhnlich gegenüber steht. „So entsteht“, schreibt Thomas Haury folgerichtig, „zwangsläufig ein binäres und verdinglichendes, ein personalisierendes und moralisierendes Denken, das eine Clique von bösen Herrschenden annehmen muss, die mittels direkter Repression, Korruption durch Sozialpolitik und gemeiner Propaganda in den Medien die Guten, die Beherrschten, niederhalten.

Das zu Kritisierende, das Abzuschaffende ist dadurch – und darin besteht die fatale Ähnlichkeit zum Antisemitismus – nicht mehr ein gesellschaftliches Verhältnis, sondern sind Menschen, die einen Teil, eine Seite dieses gesellschaftlichen Verhältnisses vermeintlich oder tatsächlich repräsentieren. Doch, nicht das materielle Interesse ist das kapitalistische Problem, sondern dessen Nichtbefriedigung.

Die Verhältnisse zu kritisieren, in denen die Wünsche nicht erfüllt werden, ist die Aufgabe der Linken, nicht die Suche nach Schuldigen oder der Versuch durch die Absetzung, den Austausch oder gar die Liquidierung von Menschen den Kapitalismus abzuschaffen.