Donnerstag, 7. März 2002

„Das letzte ... Imperialismus!“

von Ralf Fischer

Der Imperialismus, so geht die Rede, ist ein Weltsystem der politischen Ökonomie, das neuerdings auch mit Begriffen wie »Globalisierung« oder »neue Weltordnung« charakterisiert wird. Zweck dieses neuen Imperialismus ist demnach eine intensivierte ökonomische Erschließung des Weltmarkts, nachdem dessen territoriale Erschließung weitgehend abgeschlossen ist. Akteure dieser intensiven Kapitalisierung der Welt sind global agierende Konzerne.

Soweit, so nachvollziehbar, auch wenn Kritiker diese Charakterisierung als unscharf bewerten. Kombiniert wird diese Rede immer wieder mit spezifischen Zuordnungen, die sich zwar seltener auf nationale Konzerne beziehen, weil dies offensichtlich vom Gang der Geschichte widerlegt wurde, dafür aber um so häufiger auf Nationalstaaten und Staatenverbände. Am meisten verbreitet ist das Sprechen vom US-Imperialismus, gelegentlich hört man auch vom deutschen oder EU-Imperialismus. Der Staat erscheint hier als meist militärischer, weltweiter Vollstrecker der national ansässigen Kapitalinteressen.

Als Kampfbegriff - und zwar keineswegs nur als linker - geistert das Wort Imperialismus schon lange herum. Als theoretischer Begriff hat er eine wirre Karriere hinter sich, an deren Beginn Rosa Luxemburg und vor allem Wladimir Iljitsch Lenin stehen. Bei Lenin ist der Imperialismus erstens »monopolistischer Kapitalismus«, zweitens »parasitärer und faulender Kapitalismus« und drittens »sterbender Kapitalismus«. Punkt drei taucht bereits im Titel von Lenins Werk »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« auf. Diese Annahme ist mittlerweile erledigt. Alle prophezeiten gesetzmäßigen Tode des Kapitalismus haben sich nicht bewahrheitet. Lenins zweiter Punkt - der »parasitäre oder faulende Kapitalismus« - bietet ein Einfallstor für reaktionäre Tendenzen und antisemitisch begründeten Antikapitalismus.

Bleibt der noch immer gerne angeführte erste Punkt, die These vom »monopolistischen Kapitalismus«, also der Verschmelzung des Kapitals mit der Staatsmacht. Dieser augenscheinliche Unsinn, wonach Staat und Ökonomie plötzlich eins geworden seien - und der Staat nicht mehr die »Besonderung« der Gesellschaft ist, wie es noch bei Marx hieß - geht auf Lenin zurück.

Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts habe, so Lenin unter Berufung auf den britischen Ökonomen John Atkinson Hobson, der Prozess der Konzentration und Zentralisation seinen Abschluss gefunden. Die entstandenen Monopole seien mit dem Staat zusammengewachsen. Die staatliche und die politische Macht obliege seither dem Finanzkapital. Dieses gilt nicht mehr, wie noch bei Marx, als besonderer, aber notwendiger Teil der kapitalistischen Ökonomie, sondern agiere selbst in staatlicher Funktion. Welch gefährliches Potential dieser Theorie innewohnt, dürfte die antisemitische Figur des »schaffenden« Industriekapitals verdeutlichen. Die klassische, sowohl bei frühen Staatstheoretikern wie Thomas Hobbes und John Locke als auch bei Marx grundlegende Unterscheidung von politischer und ökonomischer - also gesellschaftlicher - Sphäre ist bei Lenin gestrichen.

Empirisch ist die Rede vom (Staats-)Monopol bis heute nie belegt worden. Nachweisen lassen sich nur mehr oder minder erfolgreiche Versuche von Einzelkapitalen, auf die herrschende Politik Einfluss zu nehmen. Schaut man sich beispielsweise die aktuelle Konkurrenzsituation in der US-Stahlindustrie an, sieht man sich untereinander bekämpfende Konzerne, aber kein Monopol.

Betrachtet man die Situation in der Mikroelektronik, wo die Monopolkonstituierung kurz bevorsteht und wo Microsoft über 90 Prozent des Weltmarkts abdeckt, fallen einem zuerst die harschen Versuche des US-Staates ein, dieses Monopol im Sinne der Gesamtreproduktion nicht nur der US-Volkswirtschaft zu verhindern. Wo man auch hinblickt - eine Analyse der politischen Ökonomie der Gegenwart ergibt keinen Grund, warum man mit Lenin hinter die Marxsche Analyse zurückfallen sollte.

Anders als Lenin erkennt übrigens Rosa Luxemburg, dass die Vorstellung, Einzelkapitale oder bestimmte Kapitalfraktionen könnten einen Staat zu ihrem beliebig einsetzbaren Instrument machen, mit dem Marxschen Staats- und Gesellschaftsverständnis nichts zu tun hat: »Die Marxsche Analyse der Akkumulation war zu einer Zeit entworfen, als der Imperialismus noch nicht die Weltbühne betreten hatte, und die Voraussetzung, die Marx jener Analyse zugrunde legt, die endgültige absolute Herrschaft des Kapitals in der Welt, schließt gerade von vornherein den Prozess des Imperialismus aus.« Luxemburg hält das aber für einen Irrtum bei Marx.

Luxemburg wie Lenin können sich kapitalistische Expansion nur militärisch vorstellen, nicht jedoch auf dem klassisch bürgerlichen Weg der Handelsbeziehung. Der in der Ware und folglich auch in der Ware - Geld - Beziehung enthaltene Fetisch aber führt zu einer Hegemoniebildung, die sich im Wesentlichen dem Umstand verdankt, dass die Hegemonisierten ihrer Herrschaft zustimmen, wie überhaupt jede kapitalistische Ware - Geld - Beziehung auf dem freien Willen der Akteure basiert, so wie der Vollzug des Tausches die Zustimmung schafft.

Kriegerische Expansionen eines Staates, in dem kapitalistische Ökonomie herrscht, galten Luxemburg, Lenin und ihren zahlreichen Epigonen stets als Feldzüge im Auftrag von Einzelkapitalen oder Kapitalfraktionen. Dann geht es, so die These, um Rohstoffe, um strategische Knotenpunkte (Häfen, Transportwege etc.) oder um Absatzmärkte, ohne dass jemals einer bemerkt hätte, dass dies die theoretisch wackligste Annahme ist - als seien die Marktteilnehmer im okkupierten Gebiet keine bürgerlichen Subjekte, sondern müssten wie im Feudalismus bestimmte Warenquanten abnehmen.

Doch schon die Annahme, alle Kapitale hätten Interesse an der militärischen Erschließung wichtiger Rohstoffquellen, ist politökonomisch nicht nachzuvollziehen. Zum einen verursachen die Vorbereitung und die Durchführung militärischer Operationen Kosten und bergen Risiken, die nicht wenigen Teilen des Kapitals als hinderlich erscheinen - etwa, wenn Arbeitskräfte abgezogen und unter Soldatensold gestellt werden oder die Aufrüstung mittels Steuererhöhungen finanziert werden soll. Der Staat, nicht das Kapital, brauche die Armee, »um Zuwachs an Macht und Reichtum zu gewinnen«, schreibt Marx.

Zum Zweiten bedarf ein Einzelkapital oder eine Kapitalfraktion, um die Verfügungsgewalt über eine Ölquelle zu bekommen, keineswegs militärischer Gewalt, vorausgesetzt der Staat, der der ölquellenbesitzenden Gesellschaft die Form gibt, verweigert sich nicht den politischen Erfordernissen des Weltmarkts. Diese Verweigerung praktizierten die Sowjetunion und der RGW jahrzehntelang, aber da ihre Abschottung nicht total war, setzten sich letztlich auch hier die genannten politischen Erfordernisse durch. »Sachzwang Weltmarkt« hat Elmar Altvater das in anderem Zusammenhang genannt.

Wenn die Erschließung eines bislang dem Weltmarktzugriff nicht offen stehenden Territoriums ohne militärische Gewalt und mit Zustimmung der Bevölkerung geschieht, ist das allen ökonomisch Interessierten lieber. »Es zeigen sich hier besonders die zivilisierenden Wirkungen des Kapitals«, heißt es bei Marx über die Effekte des internationalen Handels, der eben nationalstaatliche Borniertheiten aufhebt. Nicht, dass kriegerische Aktivitäten von Staaten, die man gemeinhin imperialistisch nennt, ohne Bezug auf die politökonomische Verfasstheit ihrer Gesellschaften erklärt
werden können, also nicht ökonomisch wären. Aber: Es gibt weiterhin auseinanderfallende Kapital-und Staatsinteressen, und mitunter ist es so, dass der Staat seine Interessen auch gegen die Interessen großer und mächtiger Einzelkapitale vertritt und durchsetzt.

Diese reagieren sowohl mit - meist erfolgloser - Einflussnahme auf als dienlich erachtete Staatsapparate, als auch mit dem Verlassen des nationalstaatlichen Kontrollbereichs: der Weltmarkt als politisch unzureichend reguliertes Feld. Dies kreiert das neue Kampffeld einer Weltinnenpolitik, auf dem nationalstaatlich gebundene Interessen eine nur periphere Rolle spielen und auf dem folglich jede Menge überstaatliche oder nichtstaatliche Akteure - von der Nato bis hin zu Attac - auftreten.

Antiamerikanismus and something more ....

Das binäre abendländische Denkmuster von Selbst und Anderem, von Zivilisiert und Eingeboren, Gut und Böse usw. kam Lenin bei seiner theoretischen Verwirrung zu Hilfe. Er verband das aufkommende Nationalbewusstsein in den Kolonien mit der Idee politischer Emanzipation. Eine wichtige Rolle spielte dabei das so genannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Es wurde aber von Fall zu Fall unterschiedlich interpretiert. Der deutsche Krieg gegen Frankreich und Großbritannien nach dem Hitler-Stalin-Pakt konnte beispielsweise als imperialistisch bezeichnet werden; als Deutschland die Sowjetunion überfiel, wurde der Verteidigungskampf zu einem antifaschistischen vaterländischen Volkskrieg erklärt.

Der vom Marxismus-Leninismus diktierte Antiimperialismus wurde zu einer der einflussreichsten linken Positionen bis in die neunziger Jahre. Spätestens seit dem Vietnam-Krieg ist Antiamerikanismus Bestandteil vieler - auch linker - Imperialismusanalysen; erinnert seit nur an die Parole »USA-SA-SS«. Che Guevara propagierte »eine Kriegsansage gegen den Imperialismus und einen Ruf nach der Einheit der Völker gegen den großen Feind des Menschengeschlechts, die Vereinigten Staaten von Amerika«. Die antiimperialistische Handlungsanleitung lautete: »Schafft ein, zwei, viele Vietnam!«

Doch was vielleicht einmal richtig war, führte sehr schnell zur Unterstützung wenig emanzipatorischer Politikformen und Regime im Dienste der nationalen Befreiung. Erst als der Sozialismus als Gegenmodell entfallen war und die USA als einzige Weltmacht übrig blieben, begannen Linke, diese Positionen, und damit ihre eigene Geschichte, kritisch zu hinterfragen und antinational zu analysieren.

Das Projekt des »Gegen-Empire«, das die Antiimps Negri und Hardt fordern, könnte in einem möglichen Krieg gegen den Irak die weitere Spaltung der Linken bestätigen. Sie dürften darauf bestehen, dass ein von den USA angezettelter Krieg, auch als ein Krieg der USA und nicht eines dezentralisierten Machtzentrums bezeichnet wird. Denn mindestens zwei Drittel der Menschheit betrachten den 11. September mit zumindest klammheimlicher Freude. »Ein Indikator dafür mag der bescheuerte Vergleich zwischen den Toten von Hiroshima und denen der Anschläge sein«, erläutert die Argentinierin Veronica Gago, den auch in der sich als zivilisiert bezeichnenden Welt üblichen Hang zum Aufrechnen von Toten.

Hardt und Negri betonen im Unterschied dazu einen Anti-Antiamerikanismus und die Bedeutung der vom machiavellistischen Geist geprägten US-Politsystem für den Übergang vom Imperialismus der europäischen Nationalstaaten zur weltumspannenden Souveränität des Empire. Im amerikanischen Traum gelten die Grenzen als offen, auch wenn die Praxis anders aussieht: »The frontier is a frontier of liberty.« Mit dieser Provokation des europäischen Selbstverständnisses bleiben die USA »europäische Gegenwelt - komplementärer Kontinent der abendländischen Zivilisation, Projektionsfläche all jener Bilder und Metaphern, die der Entgegensetzung zu Europa
entspringen; eine Projektionsfläche abgespaltener Anteile des Selbsthasses, die vornehmlich der Moderne geschuldet sind, aber der Neuen Welt allein aufgelastet werden. Amerika trägt das Stigma einer weltumspannenden Zivilisation«, schrieb Dan Diner 1993 in »Verkehrte Welten - Antiamerikanismus in Deutschland«.

Immerhin stellte Lenin die richtige Frage: Was tun? Wichtig ist, dass die Gegnerschaft gegen Staat und Kapital sich nicht vereinfachender, personalisierender Argumente bedient und Gesellschaft nicht als eine von einem monolithischen Block aus Kapital und Staat gesteuerte Kategorie verstanden wird. Die bürgerlich-kapitalistische Ökonomie ist als Ensemble gesellschaftlicher Beziehungen, der Staat als Ausdruck dieser gesellschaftlichen Verhältnisse zu analysieren.

Ob die Anti-Globalisierungsbewegung einen besseren Namen verdient hat, wird sich daran zeigen, ob sie solch eine Analyse vertiefen und ihre Praxis radikalisieren kann. Dies könnte zu einer neuen
Form des Internationalismus führen, die das Verhältnis zwischen dem Globalen und dem Lokalen neu definiert, ohne sich auf Nation, »Volk«, Ethnie oder Folklore zu beziehen. Nur so lässt sich eine Neuauflage der Debatte um die von der imperialistischen Weltordnung »unterdrückten Völker« verhindern.

Was tun - nun Wir?

Imperialismus und seine verschwörerischen Theoreme sind in der Zukunft der emanzipatorischen Linken komplett abzulehnen. Es bleibt an uns, dafür zu sorgen, dass Israels Existenz ein Faktum
bleibt. Dies geht nur durch die vollständige Zerstörung der antisemitischen Wahnprojektionen und niemals durch die rassistischen Zuschreibungen von anderen.Und zu den Vereinigten Staaten von Amerika: Sie sind weder pro-arabisch noch pro-israelisch, sie sind pro-USA.

Der Widerspruch, der US-Aggression, wo sie auftritt zu widersprechen und gleichzeitig den US-Schutz für Israel gut zu heißen, zeigt nur eins: Den katastrophalen Zustand dessen, was als Links bezeichnet werden kann. Solange also nichts in Sicht ist und weltweit die linke Bewegung dem antisemitischen Rausch verfallen ist, werden wir mit diesem Widerspruch leben müssen. So lange wie dieser Zustand das Beste für Israel ist.